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Aus der Kindheitsgeschichte<br />

»Ich bin als Blinddarm zur Welt gekommen.« Die Gesprächspartnerin<br />

schildert sich als ein von Geburt an ungeliebtes Kind. Möglicherweise<br />

ist sie das Kind ihres Onkels. Es gab noch einen älteren<br />

Bruder. Einige Zeit nach ihrer Geburt heiratete die Mutter.<br />

Mit dem Stiefvater »ging gar nichts.« Wegen Übergewichts fühlte<br />

sie sich als Kind zudem stigmatisiert und ausgeschlossen. Für das<br />

älter werdende Kind spitzte sich die häusliche Situation immer<br />

mehr zu. Sie reagierte mit Ausbruchsversuchen: »Eigentlich waren<br />

das Hilfeschreie.« Sie fuhr nachts ziellos mit der Straßenbahn<br />

und mit Bussen durch die Stadt und kehrte erst mit dem letzten<br />

Bus zurück. Schließlich lief sie auch mehrere Male von zu Hause<br />

weg. »Eigentlich wollte ich gesucht werden.« Ihre Hilferufe wurden<br />

aber von Niemandem verstanden. Sie, ebenso wie die Eltern,<br />

wünschten schließlich eine Heimunterbringung.<br />

Im Isenbergheim<br />

Eines Tages fuhr ein Bulli mit Jugendamtsmitarbeitern vor. Das<br />

14-jährige Mädchen wurde ohne hierauf konkret vorbereitet<br />

worden zu sein, direkt ins Isenbergheim gefahren. »Das Heim<br />

war genau das, was ich nicht suchte. Das begann schon mit der<br />

Einkleidung aus der Kleiderkammer. Die Erzieherinnen liefen mit<br />

Schlüsselbunden herum und waren unnahbar. Ihnen fehlte alles<br />

an Empathie. Alles war eiskalt. Ich fühlte mich nur schlecht.«<br />

Im Isenbergheim traf sie auf Mädchen, »die alles vom Leben<br />

wussten.« Die anderen Mädchen kannten sich aus mit Abhauen,<br />

Rauchen und hatten sexuelle Erfahrungen. Alles Dinge, die neu<br />

für sie waren. Am schlimmsten aber waren die unnahbaren<br />

Erzieherinnen und die strikte Hierarchie im Heim. Nie kam es zu<br />

ernsthaften Gesprächen, »man wurde hier einfach nicht ernst<br />

genommen.«<br />

Sie besuchte in der Nähe eine Schule mit einem »tollen Lehrer«,<br />

der sie und eine Kameradin sogar einmal sonntags zu seiner<br />

Frau und sich zum Mittagessen einlud. Außerhalb der Schule<br />

musste sie zunächst putzen, Flure schrubben und dann die<br />

Wäsche aus dem Bunker des Vereins für Innere Mission waschen.<br />

»Es war alles völlig unhygienisch und eklig.« Geputzt werden<br />

musste auch das sogenannte Sonnenhaus im Garten für die<br />

Lehrlinge. Dabei fanden die Mädchen manchmal Kippen, die sie,<br />

mangels Streichhölzern, auf der glühenden Herdplatte ansteckten.<br />

Die beliebteste Arbeitsstätte war die Nähstube, zu der sie<br />

aber nicht gelassen wurde.<br />

Eines Tages beschloss sie, mit einer Freundin und einem weiteren<br />

Mädchen abzuhauen. Die Mädchen trieben sich zunächst<br />

am Bahnhof herum, entschieden sich dann aber für die Rückkehr<br />

ins Heim. Um die Strafe der Heimleiterin entgegen zu nehmen,<br />

mussten die Mädchen stundenlang auf dem Flur stehen.<br />

Das Urteil lautete dann: Keller schrubben. Die Heimleiterin schaltete<br />

auch die Mutter und den Lehrer ein. »Sie hat mich so<br />

schlecht gemacht, dass sich sogar der nette Lehrer von mir distanzierte.«<br />

Das Heim erwirkte, dass sie die Schule nicht mehr besuchen<br />

durfte. Danach gab es für sie keinen Schulbesuch mehr.<br />

Der Kommentar der Heimleiterin lautete: »Wenn ihr nicht wollt,<br />

was ich will, dann mache ich eben auch nicht, was ihr wollt.« Als<br />

ihre Mutter ins Heim geladen war, begegnete sie ihrer Tochter<br />

wie einer Fremden.<br />

Körperliche Züchtigungen gab es im Heim nicht, dafür »jede<br />

Menge seelische Schläge.« Sie fragte sich immer wieder, wieso<br />

ein Jugendamt einen in ein solches Heim stecken konnte. »Ich<br />

hatte nie was verbrochen, kam aber in einen Knast, musste Hab<br />

und Gut abgeben, es gab nichts Persönliches. Nur schlafen, arbeiten,<br />

ruppig geweckt werden, morgens in der Kleiderkammer die<br />

Tageskleidung abholen. Es gab keine Intimität. Wir wuschen uns in<br />

einem Waschraum mit 12 Waschbecken, ohne Blickschutz vor den<br />

anderen Mädchen.«<br />

Eine einzige Erzieherin erlebte die Jugendliche als freundlich<br />

und zugewandt. »Die hatte für uns Verständnis, eine andere war<br />

dafür eine richtige Giftspritze.« Auch ein besonderes Ereignis<br />

blieb ihr präsent: Im Heim lebte ein Mädchen, das über Bauchschmerzen<br />

klagte, aber von der Heimleitung nicht ernst genommen<br />

wurde. Es handelte sich wohl um eine Blinddarmentzündung,<br />

und es soll zu einem Durchbruch gekommen sein. Das<br />

Mädchen wurde nie wieder im Heim gesehen.<br />

Zwischenzeitlich wies man sie in ein Mutter-Kind-Heim nach<br />

Osnabrück ein, obwohl sie gar nicht schwanger war. Von dort<br />

lief sie aber bald weg und wurde in Köln aufgegriffen. In einem<br />

anschließenden Gespräch im Jugendamt Bremen bot der Stiefvater<br />

an, sie zurücknehmen. Die Mutter lehnte dieses Angebot<br />

aber strikt ab. Als eine Mitarbeiterin des Jugendamtes der Mutter<br />

daraufhin vorwarf, »so ganz unschuldig dürften auch sie nicht<br />

am Verhalten ihrer Tochter sein«, war diese so gekränkt, dass sie<br />

die Vormundschaft abgab. »Das Vormundschaftsgericht, das für<br />

mich dann einen Vormund bestellte, schrieb dann was von Alkohol<br />

und Arbeitsscheu in die Begründung und ›Sie macht einen willenlosen<br />

Eindruck‹. Ich habe das Urteil sofort zerrissen.«<br />

Im Wichernhaus<br />

Als die 17-jährige Jugendliche dann doch schwanger wurde,<br />

verlegte man sie in das Wichernhaus nach Bremerhaven. »Hier<br />

war es ganz anders als im Isenbergheim. Die Erzieherinnen haben<br />

sich wirklich um mich gekümmert. Es war hier wie in einer großen<br />

Familie.« Die Mädchen hatten selbständig zu wirtschaften, es<br />

gab für alle ein eigenes Badezimmer. Sie mussten sich freilich<br />

an Regeln halten und für alles gab es einen Plan. Insgesamt<br />

empfand sie diese Maßnahmen und das Heim als »sehr in Ordnung.«<br />

Mit Unterstützung einer Erzieherin reifte der Beschluss,<br />

das Kind zur Adoption frei zu geben.<br />

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