1qDBULH
1qDBULH
1qDBULH
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Zum weiteren Lebensweg<br />
»Die positiven Erfahrungen im Wichernhaus kamen für mich zu<br />
spät. Nach der Adoption des Kindes hab ich völlig den Halt verloren.«<br />
Sie verließ das Heim und verbrachte ihre Zeit mit zum Teil<br />
»zweifelhaften« Freunden auf der Straße. Insgesamt führte sie in<br />
dieser Zeit ein unstetes Leben ohne geregelte Arbeit. Erst mit<br />
Mitte 20 änderte sich ihre Situation zum Besseren. Sie heiratete<br />
und kam damit erstmals eine Zeit lang zur Ruhe. Die Ehe wurde<br />
allerdings geschieden. Erst in ihrer darauf folgenden Ehe, der<br />
Mann ist bereits verstorben, erfuhr sie, was es heißt, »wirklich<br />
geliebt zu werden.« Aus der ersten Ehe gingen zwei Kinder hervor,<br />
mit denen es nie Probleme gab. Der Sohn studiert Jura und<br />
will Richter werden. Auch zu ihrem adoptierten Sohn stellte sie<br />
Kontakt her, und auch er »ist toll geraten.«<br />
In den letzten Jahren gelang es ihr endgültig sich »Platz zu<br />
schaffen.« Die Gesprächspartnerin arbeitet als Krankenschwester<br />
und engagiert sich ehrenamtlich in der Hospizbewegung.<br />
Gespräch 4:<br />
G30, Jg. 1960, zuständig JA Bremen<br />
Anliegen:<br />
Der Gesprächspartner wollte über Erfahrungen berichten.<br />
Zudem suchte er nach Beratung in Therapieangelegenheiten<br />
und Hilfe bei der Akteneinsicht.<br />
Stationen der Jugendhilfemaßnahmen:<br />
Auffangheim Lesmona (1969)<br />
Ev. Waisenstift Varel (1969 – 1975)<br />
JWH Dobbheide (1975 – 1978)<br />
Aus der Kindheitsgeschichte<br />
Der Gesprächspartner verbrachte seine ersten neun Lebensjahre<br />
zunächst bei den Eltern, wobei er nach der Trennung der Eltern<br />
bei der Mutter lebte. Er hatte zwei leibliche Geschwister, eine<br />
jüngere Schwester und einen jüngeren Bruder sowie einen<br />
Halbbruder, der zur Zeit der Herausnahme der Kinder aus der<br />
Familie noch im Kleinkindalter war. Spätestens nach der Trennung<br />
zeigte sich die Mutter mit der Versorgung der Kinder völlig<br />
überfordert. Sie trank, vernachlässigte den Haushalt und die<br />
Kinder. Die Wohnung vermüllte zusehends und die Mutter saß,<br />
nachdem sie morgens Zeitungen austrug, für den Rest des<br />
Tages nur noch apathisch im Sessel. Ihre letzte Schwangerschaft<br />
hatte die Mutter vor ihren Kindern verheimlicht. Sie waren<br />
in den Wochen vor und nach der Geburt auf Veranlassung von<br />
Verwandten im Aufnahmeheim Lesmona untergebracht worden.<br />
Die meisten Familienangehörigen hatten sich in dieser Zeit<br />
bereits von der Familie abgewandt.<br />
Die Familie stand unter jugendamtlicher Aufsicht. Die Mutter<br />
wusste aber bei angekündigten Besuchen in einigen Zimmern<br />
so Ordnung zu schaffen, dass von den eigentlichen Zuständen<br />
nichts ans Tagelicht kam. Das Jugendamt erhielt aber dann<br />
doch gezielte Hinweise. Kurz nach dem neunten Geburtstag<br />
des Jungen stand die Polizei plötzlich vor der Tür, um die Kinder<br />
aus der Familie zu nehmen. Die mitgebrachte Presse berichtete,<br />
illustriert mit Fotos der vermüllten Wohnung, wiederholt über<br />
die Familie. »Meine Mutter war die Rabenmutter der Nation.« Der<br />
jüngste Bruder war halb verhungert und nur von den älteren<br />
Geschwistern überhaupt am Leben gehalten worden. Auch<br />
sonst hatten der Junge, der zugleich der »Prügelknabe« der<br />
Mutter war, und seine Schwester viel Verantwortung übernehmen<br />
müssen. Sie wurden mit Zustimmung der Mutter gemeinsam<br />
in das Auffangheim Lesmona eingewiesen, die jüngeren<br />
Geschwister kamen in das St. Theresienheim. Seine frühen<br />
Kindheitserfahrungen fasste der Gesprächspartner zusammen:<br />
»Ich bin auf einer Müllhalde groß geworden.«<br />
Im Auffangheim Lesmona<br />
»Das war das Paradies.« Der Junge und seine Schwester bekamen<br />
gutes Essen, es herrschte Ordnung und es gab einen parkähnlichen<br />
Garten zum Spielen. »Mit den älteren Kindern hat der<br />
Heimleiter immer Dokumentationen im Fernsehen angesehen und<br />
dann lange mit ihnen darüber diskutiert. Für mich Neunjährigen<br />
kam das noch nicht in Frage, aber wie der mit den Kindern diskutierte,<br />
hat mich fasziniert. So was hatte ich ja noch nie erlebt.«<br />
Leider ging die Zeit in diesem schönen Heim aber schon bald zu<br />
Ende. Nach drei Monaten wurden die Geschwister zum Heimleiter<br />
bestellt. »Der eröffnete uns, dass man für uns beide nun ein<br />
anderes Heim gefunden hätte. Das war dann also die Vertreibung<br />
aus dem Paradies.«<br />
Im Waisenstift Varel 125<br />
»Varel war für mich ein Schock.« Schlimm gestaltete sich, vor<br />
allem in der Anfangszeit, der Umgang mit den anderen Kindern.<br />
»Gleich am ersten Abend bekam ich Gruppenkeile. Auch später<br />
gab es ständig was auf die Fresse. Nachts war immer die Hölle<br />
los. Wer petzte hatte schlechte Karten.« Heimleiter war ein Diakon.<br />
»Anfangs war er ja noch nett, später hat er uns dann gerne<br />
mal zu verstehen gegeben, dass wir nichts wert sind und dankbar<br />
sein müssten, dass man sich hier jetzt um uns kümmert.« Die<br />
Betreuung der Kinder vom Schulalter bis zur Volljährigkeit<br />
erfolgte Ende der 1960er Jahre noch in 18ner, später dann in<br />
15ner Gruppen; Mädchen und Jungen in getrennten Häusern.<br />
Die meisten Erzieher waren ungelernt. »Mein Haupterzieher war<br />
ein ehemaliger Soldat, entsprechend begegnete er uns. Später,<br />
schon zur Zeit der Studentenbewegung, hatten wir dann aber<br />
auch mal eine junge progressive Erzieherin. Sie nahm uns manchmal<br />
mit in ihre Kommune. Für uns war das ein Riesenerlebnis, für<br />
den Heimleiter wohl auch. Er kündigte ihr. Und außerdem gab es<br />
zwei tolle Köchinnen. Die kochten nicht nur gut, sie waren auch<br />
ganz anders als die Erzieher, nahmen einen mal in den Arm und<br />
so.«<br />
72