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gut gehabt hatte, fand sich im Kinderheim (mehr oder weniger)<br />

zurecht und konnte nach der Entlassung auf seine Kindheitsressourcen<br />

zurück greifen. Wer zu Hause rebellierte, legte in der<br />

Regel auch in einer entsprechenden Fürsorgeeinrichtung ein<br />

rebellisches Verhalten an den Tag, wurde dafür bestraft und<br />

ausgestoßen. Auch die Entlassung erfolgte in eine, aus der Perspektive<br />

des Betroffenen, feindliche Umwelt, die bekämpft<br />

werden musste. Wer in seiner Kindheit unbeheimatet war, blieb<br />

es in der Regel im Heim und häufig weiter auch nach der Entlassung.<br />

Wer in der Herkunftsfamilie immer vergeblich nach Liebe<br />

gesucht hatte, suchte sie – mit den unbeholfenen Mitteln von<br />

Kindern – in Heimen und Pflegefamilien zumeist vergeblich.<br />

Nach der Heimentlassung suchten die jungen Frauen und Männer<br />

weiter und scheiterten jedoch häufig erneut in nicht tragfähigen<br />

Liebesbeziehungen. Um Muster dieser Art zu durchbrechen,<br />

hätte es – was manchmal geschah – einer bewussten<br />

Gegenstrategie in den Heimen bedurft, um das, was im Leben<br />

der Kinder und Jugendlichen bislang gefehlt hatte, zu kompensieren.<br />

Den Heimen der 1950er und 1960er Jahre fehlte aber<br />

zumeist die Sensibilität, die Fachlichkeit, die Ressourcen und<br />

die Unterstützung, um dieses leisten zu können.<br />

Nachfolgend werden zwei die Lebensläufe maßgeblich beeinflussende<br />

Faktoren hervorgehoben: Der Einfluss des Unterbringungsortes<br />

(3.4.1) sowie der Zusammenhang zwischen der Vorgeschichte<br />

der Kinder und Jugendlichen und dem weiteren<br />

Lebenslauf (3.4.2). Wie sich beides zu einer individuellen<br />

Lebensgeschichte verdichtet, wird abschließend an vier exemplarisch<br />

ausgewählten Lebensläufen aufgezeigt (3.4.3).<br />

3.4.1 Typische Erfahrungen in<br />

unterschiedlichen Heimtypen<br />

Die Erlebnisse der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner<br />

hängen, wie schon mehrfach betont, wesentlich vom jeweiligen<br />

Unterbringungsort ab. Da die meisten Gesprächspersonen<br />

mehrere Stationen durchliefen, sind auch ihre Erfahrungen<br />

nicht einheitlich. Dominant in Erinnerung blieb in der Regel nur<br />

die Jugendhilfestation, in der sie entweder am längsten lebten,<br />

oder in der sie die für ihren weiteren Lebensweg einschneidendsten<br />

Erfahrungen machten.<br />

Erinnerungen an Säuglingsheime wurden auf Grund des Alters<br />

nicht geschildert. Institutionelle Berichte zeigen allerdings, dass<br />

dort in den 1950er und 1960er Jahren Säuglinge und Kleinkinder<br />

in Massenabfertigung durch schlecht ausgebildetes Personal<br />

versorgt wurden. Absoluten Vorrang genoss die Hygiene<br />

vor emotionaler Zuwendung. Das äußerte sich auch in stark<br />

reglementierten Besuchsmöglichkeiten für Angehörige. Ein<br />

längerer Aufenthalt in diesen Heimen konnte bis hin zu Hospitalismus<br />

weichenstellende Folgen für das ganze Leben haben.<br />

Die kommunalen Kinderheime, von Hohewurth in Bremerhaven<br />

abgesehen, sowie die wenigen Kleinheime in jenen Jahrzehnten<br />

waren zumindest konzeptionell kind- und familienzentriert.<br />

120 Direkte Schikanen wie Essenszwang, Schläge oder<br />

isolierte Strafunterbringung wurden aus diesen praktisch nicht<br />

berichtet. Das Problem lag im schlecht ausgebildeten, schlecht<br />

bezahlten und deshalb ständig wechselnden Personal. Leidenserfahrungen,<br />

zum Teil auch mit Langzeitfolgen für die Beziehungsfähigkeit,<br />

hingen mit diesem häufigen Verlust geliebter<br />

Bezugspersonen zusammen. Diese Verlusterfahrung konnte<br />

auch eintreten, wenn Kinder oder Jugendliche in eine Pflegefamilie<br />

verlegt wurden oder nach der Schulentlassung beziehungsweise<br />

aus disziplinarischen Gründen in ein anderes Heim<br />

mussten.<br />

Die alten Waisenhäuser innerhalb und außerhalb von Bremen<br />

(eine Sonderrolle nimmt das frühzeitig unter eine ›moderne‹<br />

Leitung gestellte St. Petri Waisenhaus ein) sowie das Kinderheim<br />

Hohewurth in Bremerhaven waren zum größten Teil bis<br />

etwa Mitte der 1960er Jahre konservative und religiös geprägte,<br />

auf Ordnung, Gehorsam und Anpassung gerichtete Erziehungsstätten.<br />

Aus ihnen stammen die Berichte über Essenszwang,<br />

das Einflößen von Erbrochenem, Eckestehen als Strafe, sinnloses<br />

Abschreiben von Texten als Strafaufgabe, beschämende<br />

Bloßstellungen und Praktiken gegenüber Bettnässerinnen und<br />

Bettnässern, Demütigungen und peinliche Verhöre nach sexuellen<br />

»Spielereien« und Selbstbefriedigung. Hinzu kamen<br />

zwanghafte Tischgebete, religiöse Belehrungen und verpflichtender<br />

Kirchgang, was die meisten Gesprächspartnerinnen und<br />

Gesprächspartner zeitlebens eher von der Kirche entfremdete.<br />

Dazu gehörten auch Strafgerichte durch die Hausväter oder<br />

eine leitende Ordensschwester, die die Strafe zum Teil noch mit<br />

Stockschlägen vollzogen. Im ersten Nachkriegsjahrzehnt mussten<br />

die Kinder und Jugendlichen zum Teil exzessiv im Garten<br />

oder im Haushalt der Heime arbeiten oder wurden an umliegende<br />

Bauernhöfe vermietet. Andere Probleme dieser Häuser<br />

waren, zumindest in den 1950er und den frühen 1960er Jahren,<br />

die Abschottung der Kinder und Jugendlichen von der Umwelt,<br />

die Erziehung durch oft schlecht ausgebildetes Personal und<br />

die Unterbringung in großen Schlafräumen ohne jedwede<br />

Rückzugsmöglichkeiten. Die Ehemaligen schilderten diese<br />

Heime häufig als Stätten einer freudlosen Kindheit und Jugend.<br />

Die Einrichtungen näherten sich strukturell erst gegen Ende der<br />

1960er Jahre den Verhältnissen in den kommunalen Kinderheimen<br />

an.<br />

In den Lehrlingswohnheimen ging es nach den Schilderungen<br />

der Gesprächspersonen zumeist rau und ruppig zu. Personal<br />

und Jugendliche standen sich in der Regel jedoch nicht<br />

feindlich gegenüber, sie begegneten einander eher in kühler<br />

Neutralität. Weit prägender als das Verhältnis zu den meist nur<br />

wenigen Erziehern war für die Lehrlinge das Verhältnis zu den<br />

Kameraden. Streiche machen, manchmal auch Saufgelage<br />

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