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»Es war ein fürchterlicher Zwang«<br />

Auch eine andere Gesprächspartnerin behielt die täglichen<br />

Andachten in Alten Eichen in unangenehmer Erinnerung.<br />

»Die Andachten hielt immer der Hausvater. Sonntags ging<br />

man in die Horner Kirche. Mittags und abends wurde gebetet.<br />

Die meisten von uns haben das ganze Religiöse einfach, mit<br />

auf Dauer abschreckender Wirkung, hingenommen. Es war<br />

eben einfach ein fürchterlicher Zwang.« (G49, private Unterbringung,<br />

1959 – 1969)<br />

Neben diesen negativen Erfahrungen bildete die Ausübung der<br />

Religion und die mit dieser verbundene Veranstaltungen, wie<br />

die bereits erwähnten Weihnachtsfeiern, Prozessionen oder<br />

Martinsumzüge, für manche Kinder aber auch ein positives Element<br />

der Heimerziehung.<br />

Kindergottesdienste und Beichte als Befreiung<br />

Die Gesprächspartnerin hat insgesamt positive Erinnerungen<br />

an St. Johannis. Auch an die Kindergottesdienste und<br />

die Beichte in St. Johannis denkt die damals Sechs- bis Zehnjährige<br />

gerne zurück. »Ich hab die Beichte sehr ernst genommen,<br />

fühlte mich nach ihr gesammelt, besonnen und richtig<br />

befreit«. (G19, JA Bremen, 1965 – 1969)<br />

Für eine andere Gesprächspartnerin stellte sich der freiwillige<br />

Kirchgang mit einer von ihr akzeptierten Erzieherin völlig anders<br />

dar, als der vom Heim angeordnete.<br />

Krippenspiele und Kirchenchor<br />

»Im Isenbergheim ging ich mit einer der Schwestern immer in<br />

die Kirche. Da hab ich auch im Kirchenchor mitgesungen und in<br />

Krippenspielen mitgespielt. Einmal hab ich die Maria gesungen.<br />

Auch im Heim wurde immer gebetet und sonntags wurde man<br />

eine Zeitlang im Gänsemarsch und in Zweierreihen in die<br />

Kirche geführt. Das hat niemand interessiert«. (G4, JA Bremen,<br />

1951 – 1954)<br />

Schließlich berichtete noch ein Gesprächspartner aus dem KWH<br />

Schönebeck davon, dass ihn die Heimleiterin in eine evangelische<br />

Jugendgruppe vermittelte. Seine dortigen Erlebnisse stellen<br />

für ihn zentrale und positive Erfahrungen dar.<br />

»Die Erinnerung ist mir heute noch viel wert.«<br />

»Die Gruppe wurde für mich über viele Jahre hinweg das Wichtigste<br />

in meinem Leben. Ich habe Freunde gefunden, und wir<br />

haben viele Sachen zusammen gemacht, Singen, Fahrten, Laienspiele<br />

und anderes. Auch der Diakon war nett zu mir. Ich wurde<br />

von ihm und seiner Frau öfter mal zum Essen eingeladen.<br />

Mit der Gruppe bin ich dann auch das erste Mal in meinem<br />

Leben richtig verreist. Wir haben in einem Ferienlager im Ausland<br />

gelebt. Während der Zeit arbeiteten wir einen halben Tag<br />

in einem sozialen Projekt und hatten den Rest dann Freizeit.<br />

Die Erinnerung daran ist mir noch heute viel wert.« (G15, JA<br />

Bremen, 1962)<br />

3.3.10 Die »Insassen-Kultur«<br />

Die Erziehungsheime in den 1950er und 1960er Jahren hatten<br />

zumeist den Charakter »totaler Institutionen«. 115 In solchen Institutionen<br />

spielt sich das gesamte Leben an einem einzigen<br />

räumlich und sozial begrenzten Ort ab und wird nach einem<br />

einheitlichen Zwangssystem unter dem Grundsatz der institutionellen<br />

Kontrolle aller Lebensbereiche verwaltet. Zu den Merkmalen<br />

einer totalen Institution gehört auch, dass sich zwei<br />

Gruppen gegenüberstehen, die »Insassen« und die »Aufseher«.<br />

Während die »Insassen« zum Gehorsam verpflichtet sind, geben<br />

die »Aufseher« die Regeln vor. In solchen Institutionen bildet<br />

sich neben dem offiziellen Programm, das unter Aufsicht durchgeführt<br />

wird, auch immer eine informelle Kultur heraus, mit der<br />

sich die »Insassen« einen Rest von Autonomie zu sichern<br />

suchen. Hierzu gehören Widerstandsformen, geheime Koalitionen<br />

gegen die »Aufseher«, die Suche nach Fluchtorten, ein<br />

geheim gehaltenes zweites Leben neben dem offiziell vorgeschriebenem<br />

und der heimliche Konsum von eigentlich Verbotenem.<br />

Auch wenn es sich längst nicht bei allen Heimen um totale Institutionen<br />

in diesem Sinne handelte, ist doch für die meisten<br />

Heime jener Zeit die eingeschränkte Autonomie der Kinder und<br />

Jugendlichen und die Reglementierung des gesamten Alltags<br />

durch das pädagogische Programm typisch. In der Folge bildeten<br />

sich auch überall zumindest Elemente einer eigenständigen<br />

»Insassenkultur« heraus. Zu ihr gehörten – zum Teil von den<br />

Erzieherinnen und Erziehern als Ventil begrüßt – Hackordnungen<br />

unter den Kindern und Jugendlichen, das Austricksen von<br />

Erziehungskräften, der Versuch, sich dem Reglement durch Entweichung<br />

zu entziehen und andere Alltagsfluchten.<br />

Hierarchien, Hackordnungen und Gewalt<br />

unter Jugendlichen<br />

Eine Reihe der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner,<br />

vor allem Jugendliche aus mehr oder weniger geschlossenen<br />

Erziehungsheimen, berichteten von der fast zwingenden Notwendigkeit,<br />

sich einen Platz in der Gruppe zu erkämpfen. Der<br />

Platz in der Hierarchie entschied nicht nur darüber, welches<br />

Ansehen man unter den Kameradinnen und Kameraden genoss,<br />

sondern auch über Privilegien oder – wenn man einen unteren<br />

Rang einnahm – über Repressalien durch andere Jugendliche.<br />

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