1qDBULH
1qDBULH
1qDBULH
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Der Aufenthalt im Stephansstift wurde durch einen auf drei<br />
Monate angelegten Schweißerlehrgang in Bremen zunächst<br />
unterbrochen, dann beendet. Während dieser Zeit war der<br />
Jugendliche im LWH Stackkamp untergebracht. Als er anlässlich<br />
einer Wette 30 Biere innerhalb der Arbeitszeit trank und im<br />
Umkleideraum seinen Rausch ausschlief, war es hier, und auch<br />
im Stephansstift zu Ende. Die nächste Station hieß Freistatt.<br />
In Freistatt 124<br />
»Nur Prols als Erzieher, kein vernünftiger Mensch.« Der Jugendliche<br />
lebte dort in der geschlossenen Abteilung, die in Kolonnen<br />
zum Torfstechen geschickt wurde. Die Fenster bestanden<br />
aus Glasstein und Panzerglas. »Wir mussten uns sogar von Tisch<br />
zu Tisch und von einem Raum in den anderen abmelden.« Das<br />
Schlimmste für ihn war es, gefangen zu sein. Das Gefühl war<br />
unerträglich. Strafen wurden unter anderem in der Arrestzelle<br />
verbüßt, mit einer Matratze, Wasser zu trinken und höchstens<br />
alle drei Tage einem anständigen Mittagessen. Der Arrest war<br />
auf sieben Tage begrenzt.<br />
Auch in Freistatt kämpften die Jugendlichen um ihre Position.<br />
Er arbeitete sich nach und nach hoch. Dabei übten die Jugendlichen<br />
untereinander eine Form der Selbstjustiz aus. Als ihm<br />
einmal bei der Torfarbeit ein anderer Jugendlicher eine Zigarette<br />
anbot, zündete er diese sofort an. Das war aber so nicht<br />
erlaubt, denn erst musste das »Feuer frei« des Aufsehers eingeholt<br />
werden. Weil er sich daneben benommen hatte, bekamen<br />
auch alle anderen keine Zigarette. Abends rächten sie sich mit<br />
Schlägen an ihm.<br />
Die einzelnen Häuser veranstalteten Fußballspiele gegeneinander<br />
und die Mannschaft, die verlor, bekam drei Tage lang keine<br />
Zigaretten. Schule wurde nur einmal wöchentlich gehalten.<br />
»Da haben sie irgendwas erzählt.« Weiter erzählte der Gesprächspartner:<br />
»Um wenigstens ab und an mal meine Ruhe zu haben,<br />
hab ich mir die Toilette als Rückzugsort gesucht. Ich hab mich da<br />
mehrfach am Tag eingeschlossen. Den Erziehern hat das gar nicht<br />
gefallen. Zur Strafe musste ich auf einem Donnerbalken außerhalb<br />
des Heims halbe Stunden sitzen bleiben. Der Kommentar der Erzieher:<br />
›So, jetzt ruh Dich mal schön aus.‹« Manchmal wurden die<br />
Jungen schon frühmorgens, lange vor dem Wecken, zum Kartoffelschälen<br />
eingeteilt. »Wenn ich dann zum Frühstück kam, war<br />
das meiste schon aufgegessen.«<br />
Auch von hier riss der Jugendliche aus. »Ich hab immer geguckt,<br />
ob da jemand ist, mit dem ich abhauen kann.« Es zog ihn immer<br />
»an die Küste«, das war der Neustadt-Hafen-Kietz. Hier hatte er<br />
seine Stammkneipe. »Hier hab ich gratis zu trinken und manchmal<br />
auch eine Frau für die Nacht gekriegt.« Mit Blick auf Sexualität<br />
in Freistatt erinnerte er sich daran, dass ihn eine Erzieherin<br />
sexuell bedrängte, obwohl er gar nicht »scharf« auf sie war.<br />
Seine Zeit in Freistatt endete damit, dass die Heimleitung bei<br />
der Kripo Bremen nachsuchte, ihn abzuholen. Er hatte mit älteren<br />
Jugendlichen Einbrüche in Kneipen, »Automaten raus reißen<br />
und so etwas« begangen. Zwar wusste er, dass das irgendwie<br />
verboten war, aber nicht, dass man dafür auch schwer bestraft<br />
werden konnte. »Hatte mir ja niemand gesagt.« Der junge Mann<br />
wurde zu einer zweieinhalbjährigen Gefängnisstrafe verurteilt.<br />
»Meine Komplizen wurden alle auf Bewährung gesetzt. Mir hat<br />
man wohl besonders eine Tätowierung mit dem Text ›Ist mir doch<br />
scheißegal‹ angekreidet.« Die Strafe wurde in der Jugendvollzugsanstalt<br />
Oslebshausen vollzogen, die damals das »KZ des Nordens«<br />
genannt wurde. Er saß die Strafe lieber ab, als die Forderungen<br />
nach Anpassung zu erfüllen.<br />
Zum weiteren Lebensweg<br />
Nach der verbüßten Strafe kam es später zu einer weiteren Inhaftierung.<br />
Insgesamt verbrachte er über fünf Jahre im Gefängnis.<br />
Der Gesprächspartner führte mehrere Jahre lang ein subkulturelles<br />
Leben, in dem Prostituierte und Alkohol eine große Rolle<br />
spielten. Bald begann er damit, sein Leben mit anderen Alkoholikern<br />
auf der Straße zu verbringen, konnte sich dann aber<br />
davon lösen. »Mit Alkohol hab ich schon vor 30 Jahren aufgehört.<br />
Zu der Szene hab ich aber immer noch guten Kontakt. Ich bin da so<br />
etwas wie ein Vertrauter geworden.«<br />
Seit seinem 17. Lebensjahr nahm er Valium zur Beruhigung und<br />
ist bis heute tablettenabhängig. Wegen Ängsten – er kann sich<br />
nicht mehr als zwei Kilometer von seiner Wohnung entfernen –<br />
kam er in die Psychiatrie und in psychologisch-therapeutische<br />
Behandlung. Ruhiger wurde er erst nach einem Herzinfarkt. Über<br />
Leute, die ihm schief kommen, regt er sich aber noch immer<br />
auf, versteht es jedoch besser, sich zu beherrschen.<br />
In der psychiatrischen Klinik lernte er seine spätere Frau kennen,<br />
die dort als Krankenschwester arbeitete. Für ihn war es Liebe<br />
auf den ersten Blick. Sie bekamen einen Sohn und obwohl sich<br />
das Paar vor über 20 Jahren trennte, besteht weiterhin ein guter<br />
Kontakt. Da er »nicht so viel« in seinem Leben gearbeitet hat,<br />
»ich kam immer mit dem Aufstehen nicht klar«, beläuft sich seine<br />
Rente nur auf 400 Euro. Er möchte darum wenigstens um seine<br />
ihm durch die Heimunterbringung entgangene Rente kämpfen.<br />
Gespräch 3:<br />
G48, Jg.1955, zuständig JA Bremerhaven<br />
Anliegen:<br />
Die Gesprächspartnerin möchte von ihren Erlebnissen berichten.<br />
So etwas, wie damals mit ihr geschah, darf nie wieder mit<br />
einem Kind geschehen. Durch eine finanzielle Entschädigung<br />
lässt sich das damals Geschehene nicht wieder gut machen.<br />
Stationen der Jugendhilfemaßnahmen:<br />
Isenbergheim (1969 – 1970)<br />
Osnabrücker Mutter-Kind-Heim (1970)<br />
Wichernhaus Bremerhaven (1971)<br />
70