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Mit dem Beginn der 1960er Jahre wandelten sich die spezifisch<br />
protestantischen Diskurse zur Heimerziehung. Die auf Zucht<br />
und Ordnung basierenden Instrumente der Erziehung in den<br />
Heimen wurden zunehmend in Frage gestellt. Im Rahmen eines<br />
neuen Gottes- und Menschenbildes wurde die Gottebenbildlichkeit<br />
und damit die Würde des Menschen zum Ausgangspunkt<br />
der Erziehung. Gott würdigte den Menschen als sein Ebenbild.<br />
Aus dem auf Gehorsam basierenden Herrscher- und<br />
Beherrschtenverhältnis wurde eine Partnerschaft, die eine<br />
Erziehung zu Eigenverantwortung und individueller Entfaltung<br />
ermöglicht oder sogar voraussetzt. Damit geriet das einstmalige<br />
Haupterziehungsziel, der Gehorsam, auf den Prüfstand. Die<br />
einsetzenden Debatten führten dazu, dass anstelle repressiver<br />
Disziplinierungsmethoden zunehmend therapeutisch interventionistische<br />
Ansätze in den Vordergrund traten. Kinder- und<br />
Jugendliche wurden nicht mehr primär für abweichendes Verhalten<br />
bestraft, vielmehr wurden sie als Opfer von nicht geleisteter<br />
Erziehung wahrgenommen. Die Intervention im Vorfeld<br />
eines möglichen Fehlverhaltens übernahm den Vorrang vor der<br />
strafenden Erziehung als Reaktion darauf.<br />
Für die spezifisch protestantischen Diskurse über Erziehung<br />
und Strafe lassen sich also zwei Phasen unterscheiden. Das<br />
durch Zucht und Strafe geprägte Leitbild, wie es in den 1950er<br />
Jahren vorherrschte, und das Leitbild einer Erziehung zur Persönlichkeitsentfaltung.<br />
Der Wandel dieser theologisch fundierten<br />
Diskurse kam jedoch nicht unmittelbar im Heimalltag an. Das<br />
lag zum einen an den Beharrungstendenzen in den traditionellen<br />
Heimeinrichtungen und zum anderen daran, dass sich an<br />
der personellen und materiellen Mangelsituation in den Heimen<br />
noch lange nichts änderte.<br />
Der Widerspruch zwischen den theoretisch geführten theologischen<br />
Debatten in Fachkreisen und dem Alltag in den Heimen<br />
sowie bei den gläubigen Laien findet sich auch im katholischen<br />
Kontext. Die katholische Heimerziehung unterschied zwischen<br />
einer religiösen Erziehung im »engeren« und im »weiteren«<br />
Sinne. Die religiöse Erziehung im engeren Sinne lag in der<br />
Heranführung und Ausübung religiöser Praktiken wie dem<br />
Beten und der Beichte. Im weiteren Sinne beinhaltete religiöse<br />
Erziehung einen ganzheitlichen Ansatz, der über die Ausübung<br />
konfessioneller Praktiken hinausging. »Vielmehr hatten alle<br />
Aspekte des Heimlebens in den Augen der katholischen Pädagogen<br />
auch eine religiöse Seite.« 93 Das hieß, dass alle Teilaspekte<br />
der Erziehung, wie Geschlechter- oder Berufserziehung, aber<br />
auch praktische Fragen, wie zum Beispiel, ob im Heim geraucht<br />
werden dürfe, religiös geladen und gedeutet wurden. 94 Im Handbuch<br />
für Heimerziehung hieß es:<br />
»Religiöse Erziehung ist nicht ein Teil der Erziehung, sondern<br />
durchdringt das gesamte Werk der Erziehung, so dass kein<br />
Teil der Erziehung im Grund herausgelöst werden kann, weil<br />
er nichts mit Religion zu tun hätte.« 95<br />
Eine sich auch für nicht religiöse Aspekte der Heimerziehung<br />
öffnende Debatte – z.B. über medizinische und psychologische<br />
Ansätze – hatte zwar bereits mit dem Ende des Kaiserreichs eingesetzt.<br />
96 Jedoch erst ab den 1950er Jahren wurde die missionarisch<br />
auf die Rettung des Seelenheils ausgerichtete katholische<br />
Heimerziehung zunehmend mit der Forderung verbunden,<br />
auch das irdische Heil, also das weltliche Wohl des Kindes, zum<br />
Maßstab der Erziehung zu machen. 97<br />
Andreas Henkelmann unterscheidet drei Phasen der innerkatholischen<br />
Diskussion über Erziehung in der Zeit von 1945 bis<br />
1969. Die erste Phase datiert er vom Ende des Zweiten Weltkrieges<br />
bis 1957, die zweite von 1958 bis 1968, und die dritte ab<br />
1969.<br />
In der Nachkriegszeit befand sich der Katholizismus insgesamt<br />
in einer Phase, in der er zielgerichtet an einer Erneuerung der<br />
Gesellschaft unter christlich-katholischen Wertvorstellungen<br />
sowie an deren Bewahrung arbeitete. 98 Eine konservative und<br />
sich den gesellschaftlichen Entwicklungen der aufkommenden<br />
Konsum- und Massenkultur widersetzende Grundhaltung<br />
zeichneten diese Zeit aus. Die Diskussion um religiöse Heimerziehung<br />
in dieser ersten Phase, drehte sich vor allem um die<br />
Frage, welche Rolle der Zwang in der religiösen Erziehung spielen<br />
sollte. Die Kinder sollten nicht unter Zwang leere Rituale<br />
vollziehen, sondern durch religiöse Atmosphäre und gute Vorbilder<br />
voller Begeisterung zum Glauben gebracht werden.<br />
Gerade darin wird die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis<br />
für die katholische Heimpädagogik besonders deutlich.<br />
In dieser Phase diskutierten Fachkreise auch über das Gottesbild,<br />
das den Kindern vermittelt werden sollte. Auch hier<br />
bestand eine Diskrepanz zwischen den Vorschlägen, die eine<br />
positiv besetzte Verbindung zu Gott forderten und der Praxis in<br />
den Heimen und in vielen gläubigen katholischen Familien, in<br />
denen Gott als strafendes, allwissendes Drohmittel eingesetzt<br />
wurde. Die vorherrschenden Erziehungsvorstellungen bildeten<br />
entsprechend, wie im Protestantismus, Zucht, Ordnung und<br />
Gehorsam gegenüber Eltern beziehungsweise den Erziehern.<br />
Diese Phase der passiven Haltung zu den einsetzenden gesellschaftlichen<br />
Veränderungen endete mit den Unruhen der sogenannten<br />
Halbstarken. 99 Diese erreichten ihren Höhepunkt zwischen<br />
den Jahren 1956 und 1958 und führten dazu, dass andere<br />
Themen in den katholischen Erziehungsdiskurs einzogen. Die<br />
Krawalle der Jugendlichen waren ein Symptom eines einsetzenden<br />
allgemeinen Wertewandels, dem sich der Katholizismus<br />
nicht länger entziehen konnte. Nicht nur im Verhältnis zur<br />
Welt des Massenkonsums fand eine langsame Änderung der<br />
Sichtweise statt. Auch in der Heimerziehung sahen Teile der<br />
katholischen Fachkreise, dass eine Öffnung hin zu einem der<br />
Gesellschaft angepassten Erziehungs- und Lebensstils nötig sei.<br />
Dabei wurde der noch vorherrschende klösterliche Duktus vieler<br />
Einrichtungen kritisiert, da dieser die Heimkinder nicht auf die<br />
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