1qDBULH
1qDBULH
1qDBULH
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Die Fürsorgeerziehung<br />
Anders als der aus dem Zivilrecht stammende Sorgerechtsentzug<br />
nach § 1666 BGB stammt die Fürsorgeerziehung, zunächst<br />
Zwangserziehung genannt, ursprünglich aus dem Strafrecht. 56<br />
Erste Konkretisierungen in ausführenden Landesgesetzen ermöglichten<br />
es den Landesbehörden nach Beschluss eines Vormundschaftsgerichts,<br />
die unter 12-jährigen straffälligen Kinder in einer<br />
Erziehungs- und Besserungsanstalt unterzubringen. Das Strafgesetz<br />
selbst erlaubte den Richtern die Unterbringung der 12- bis<br />
18-Jährigen in einer Besserungsanstalt statt in einem Gefängnis.<br />
Der hiermit verbundene Gedanke »Erziehung statt Strafe«,<br />
meinte allerdings keine verständnisvolle Milde, sondern eher<br />
im Gegenteil eine intensivierte und verlängerte korrigierende<br />
Einwirkung auf junge Täterinnen oder Täter. Voraussetzung<br />
war, wie schon bei der Aberkennung von Elternrechten, ein entweder<br />
schuldhaft bewirkter oder objektiv besonders bedrohlicher<br />
Grad kindlicher beziehungsweise jugendlicher Verwahrlosung.<br />
57<br />
Reichseinheitliche Regelungen brachte erst das RJWG. Bis dahin<br />
hatte sich der Kreis der über die Fürsorgeerziehung erfassbaren<br />
Kinder und Jugendlichen ständig ausgeweitet und galt schließlich<br />
unabhängig von einer Straffälligkeit für alle Kinder und<br />
Jugendlichen, die als verwahrlost angesehen wurden oder zu<br />
verwahrlosen drohten.<br />
Das Hauptmerkmal der Fürsorgeerziehung war, dass der Staat<br />
an Stelle der Eltern die Erziehungsverpflichtung übernahm.<br />
Deren Rechte wurden für die Dauer der angeordneten Fürsorgeerziehung<br />
durch das Vormundschaftsgericht außer Kraft gesetzt.<br />
Hierzu bedurfte es keines Sorgerechtsentzugs nach § 1666 BGB,<br />
es war aber zu überprüfen, ob dessen Voraussetzungen vorlagen.<br />
58<br />
Nach den Regelungen des RJWG mussten die Gerichte zunächst<br />
zwischen der sogenannten »vorbeugenden« (§63 Abs. 1 Nr. 1<br />
RJWG) und der »heilenden« (§ 63 Abs. 1 Nr. 2 RJWG) Fürsorgeerziehung<br />
unterscheiden. Im ersten Fall drohte eine durch das Verschulden<br />
der Eltern herbeigeführte geistige oder sittliche Verwahrlosung<br />
und im zweiten Fall war diese bereits eingetreten.<br />
In Anknüpfung an frühere Regelungen wurden die Landesjugendämter<br />
in ihrer Funktion als sogenannte Fürsorgeerziehungsbehörden<br />
(FEB) mit der Durchführung der Fürsorgeerziehung<br />
betraut und ihnen die Finanzierung der Maßnahmen<br />
auferlegt. 59 Über die Anordnung der Fürsorgeerziehung<br />
beschloss das Vormundschaftsgericht auf Antrag des Jugendamts,<br />
oder, wenn ihm von anderer Seite, beispielsweise der<br />
Schule, ein Hinweis gegeben wurde. Im RJWG war die Anordnung<br />
noch bis in das nicht vollendete 20. Lebensjahr möglich,<br />
wurde dann im Nationalsozialismus – primär aus Kostengründen<br />
– auf das 18. Lebensjahr begrenzt. Diese Regelung machte<br />
den Bremer Behörden in den Nachkriegsjahren stark zu schaffen,<br />
da ältere Jugendliche dadurch nicht mehr erfassbar waren.<br />
Die Fürsorgeerziehung endete mit der Volljährigkeit oder, wenn<br />
der Erziehungszweck vorzeitig erreicht war, von Amts wegen<br />
beziehungsweise auf Antrag des Jugendamtes oder der Personensorgeberechtigten.<br />
Unterschieden wurde zwischen vorläufiger und endgültiger<br />
Fürsorgeerziehung, wobei erstere bei Gefahr im Verzuge, letztere<br />
erst nach Bestätigung der Bedürftigkeit durch die ausführenden<br />
Behörden und Heime auf Antrag angeordnet wurde. In<br />
der bremischen Praxis betrachteten die Verantwortlichen beide<br />
Maßnahmen einfach als zwei Stufen. Vielfach blieb die Anordnung<br />
der vorläufigen Fürsorgeerziehung jahrelang bestehen.<br />
Im Gegensatz zur landläufigen Meinung war eine Fürsorgeerziehung<br />
zudem keineswegs immer mit der Unterbringung in<br />
einer Anstalt verbunden. Sie konnte auch in einer anderen<br />
Familie und sogar in der eigenen Familie des Kindes oder<br />
Jugendlichen durchgeführt werden. In Bremen bestand diese<br />
Möglichkeit schon seit 1877. 60 Die Entscheidung hierüber traf<br />
die zuständige Behörde.<br />
Im Nachkriegsbremen wurde die vorläufige Fürsorgeerziehung<br />
in der Regel – gewissermaßen als Schocktherapie – zunächst<br />
immer in einer zumeist geschlossenen Einrichtung vollzogen,<br />
danach aber häufig – dies auch aus Kostengründen – als Unterbringung<br />
in einer »anderen Familie« fortgesetzt. 61 Hinter diesem<br />
Begriff versteckte sich nicht eine qualifizierte und freundliche<br />
Pflegefamilie. Bei den männlichen Jugendlichen war es eher ein<br />
Landwirt oder ein Handwerker, der zwar Kost und Logis bot,<br />
insbesondere aber an der Arbeitskraft des jungen Menschen<br />
Interesse hatte. Wenn es um Mädchen und junge Frauen ging,<br />
handelte es sich häufig um eine Familie, die nach einer Hausgehilfin<br />
suchte. In Bremen war in den 1950er und teilweise noch bis<br />
in die 1960er Jahre hinein auch die Unterbringung von Jugendlichen<br />
auf einem Binnenschiff oder in der sonstigen Seefahrt<br />
gängige Praxis.<br />
Die Novelle des JWG von 1961 brachte zwar in einigen Bereichen<br />
etwas mehr Rechtsklarheit, ließ das Rechtsinstitut Fürsorgeerziehung<br />
aber im Wesentlichen unangetastet.<br />
Nach dem Wortlaut des Gesetzes sollte die Fürsorgeerziehung<br />
nunmehr nur noch angeordnet werden, »wenn keine andere<br />
Erziehungsmaßnahme gewährt werden kann.« Beendet werden<br />
sollte sie, sobald sich eine Möglichkeit der Erziehung in einem<br />
anderen Kontext auftat. Anträge stellen konnten nun das Landesjugendamt,<br />
das Jugendamt und personensorgeberechtigte<br />
Eltern, wobei der Personenkreis durch Landesgesetze erweiterbar<br />
war. Erfüllt wurde eine alte Forderung nach Begrenzung der<br />
vorläufigen Fürsorgeerziehung auf sechs Monate. Zudem konnten<br />
jetzt auch Jugendliche selbst Widerspruch gegen die Anordnung<br />
einlegen und eine Anhörung wurde dem Vormundschaftsgericht<br />
zwingend vorgeschrieben. Neu war auch ein<br />
Passus, der die Landesjugendämter verbindlich zur alleinzuständigen<br />
Fürsorgeerziehungsbehörde erklärte, wobei ihnen aller-<br />
22