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Die Gesamtatmosphäre<br />
In den Erzählungen geht es nicht nur um einzelne Strafen und<br />
Erziehungspraktiken. Die Kinder und Jugendlichen litten auch<br />
unter der allgemeinen Atmosphäre im Heim. Die häufigsten<br />
Klagen beziehen sich auf Lieblosigkeit, den Mangel an Zuwendung,<br />
den allgemeinen rauen, militärischen Ton und die umfassende<br />
Kontrolle des Lebens.<br />
Keine Intimsphäre, keine Zärtlichkeit<br />
Als uneheliches, von der Mutter nicht gewolltes Kind,<br />
begann für den Gesprächspartner die öffentliche Erziehung<br />
direkt nach der Geburt. Nach mehreren Stationen in verschiedenen<br />
Heimen verbrachte er elf Jahre in Hephata. »Man<br />
machte in Hephata alles gemeinsam. Es gab keine Intimsphäre,<br />
kein abschließbares Fach. Um niemanden zu bevorzugen, gab<br />
es keinem Kind gegenüber irgendwelche Zärtlichkeiten. Man<br />
musste Briefe schreiben, aber immer mit Zensur. Auch eingehende<br />
Post wurde nur geöffnet ausgehändigt.« (G16, JA Bremen,<br />
1959 –1970)<br />
Keine Emotionen<br />
»Das ganze Leben im Dorotheenheim war streng und emotionslos.<br />
Die Diakonissen waren Personen ohne Gesicht. Im Heim<br />
musste immer Ruhe herrschen. Auch die Arbeit – zumeist Fußbodenschrubben<br />
oder Bügelstube – musste wort- und lautlos<br />
vollzogen werden. Damit wir nicht zusammen schwatzten,<br />
mussten wir beim Flurschrubben sogar immer von unterschiedlichen<br />
Seiten beginnen. Die Aufsicht bestand im Wesentlichen<br />
aus Ermahnungen zur Ruhe. Irgendwann zeigte man uns den<br />
Keller. Die Schwestern drohten damit, uns bei Verstößen dort<br />
einzusperren. Diese Drohung hat wohl maßgeblich zu der allgemein<br />
gedrückten Stimmung im Heim beigetragen.« (G21,<br />
JA Bremen, 1969)<br />
Alles ganz anders<br />
»Die Erzieherinnen im Liner-Haus waren eigentlich ganz in Ordnung.<br />
Das Schlimme war die Gesamtsituation. Man fühlte sich<br />
degradiert, abgeschoben. Alles war ganz anders als gewohnt.<br />
Man musste sich im Waschraum vor Erzieherinnen ausziehen,<br />
die Post wurde von ihnen gelesen, es wurde ständig Ordnung<br />
und Sauberkeit gepredigt.« (G34, JA Nienburg, 1972 – 74)<br />
In einer Pflegefamilie<br />
Anzumerken bleibt, dass es fast allen Kindern, die während<br />
eines Teils ihrer Jugendhilfekarriere in Pflegefamilien oder einer<br />
ländlichen Arbeitsstelle untergebracht waren, keineswegs besser<br />
erging. Sowohl aus ländlichen als auch aus städtischen Pflegefamilien<br />
wurde noch bis weit in die 1950er Jahre hinein von<br />
Schlägen mit dem Rohrstock berichtet. Wichtiger aber waren in<br />
den Erinnerungen die weit tiefer gehenden Demütigungen und<br />
Beschämungen, bei denen es sich vielfach um die Herkunft der<br />
Kinder oder einfach darum, dass sie Pflegekinder waren, drehte.<br />
Sie gingen sowohl von den Pflegeeltern als auch von Personen<br />
aus dem Umfeld der Kinder aus.<br />
Unehelich und schlechte Erbanlagen<br />
»Meine beiden Brüder und ich kamen zu Pflegeeltern in ein<br />
katholisches Dorf. Vom Pfarrer wurden wir gleich nach unserer<br />
Ankunft der Gemeinde als die ›drei Heimkinder‹ vorgestellt.<br />
Unsere Pflegemutter war sadistisch. Wir wurden von ihr wegen<br />
kleinster Anlässe verprügelt, manchmal zwei Tage bei Wasser<br />
und Brot in unser Zimmer eingesperrt, mit dem Waschknüppel<br />
in die Ecke getrieben, unsere Hände in heißes Wasser getaucht.<br />
Ständig wurde uns vorgehalten, dass wir unehelich sind und<br />
schlechte Erbanlagen hätten.« (G33, JA Hamburg, 1961 – 1971)<br />
Mit der Pubertät kamen die Schwierigkeiten<br />
»Die Schwierigkeiten mit meiner Pflegemutter fingen erst in der<br />
Pubertät an. In dieser Zeit nahm ich Kontakt zu einem 13-jährigen<br />
Mädchen in unserem Haus auf. Das war das Schlimmste,<br />
was ich hätte tun können. Das Mädchen war nämlich schwanger,<br />
ein öffentlicher Skandal im Dorf. Wenn du Dich mit der einlässt,<br />
sagte meine Pflegemutter, wird es nicht lange dauern, bis<br />
du auch mit einem Kind ankommst.« (G21, JA Bremen, 1969)<br />
Nicht mehr mit dem richtigen Namen angesprochen<br />
Aus dem St. Johannis Kinderheim kam das Mädchen in eine<br />
katholische Pflegefamilie im süddeutschen Raum. »Die Verbindung<br />
zu meiner Vergangenheit wurde komplett gekappt.<br />
Ich wurde nicht mit meinem richtigen Namen angesprochen,<br />
sondern hieß bei ihr nur Uschi. Auch von meinen Sachen durfte<br />
ich nichts behalten, alles wurde neu gekauft. Der Kontakt zu<br />
meinen Großeltern wurde mir verboten, nicht mal einen Brief<br />
durfte ich schreiben. Als die mir dann doch mal ein Weihnachtspaket<br />
schickten, redete es mir meine Pflegemutter schlecht. –<br />
Vor meiner Erstkommunion wurde mir von meiner Pflegemutter<br />
gesagt, dass mein weißes Kleid schwarz werden würde,<br />
wenn ich auch nur eine einzige Sünde nicht beichten würde.«<br />
(G 3, JA Bremen, 1957)<br />
Nicht mit den getauften Kindern zusammen<br />
Der Gesprächspartnerin, die seit jungen Jahren in einer<br />
Pflegefamilie lebte, wurde anlässlich der bevorstehenden<br />
Konfirmation während einer Autofahrt mitgeteilt »Du bist<br />
kein richtiges Kind«. Im weiteren Verlauf ergab sich, dass die<br />
Pflegeeltern keinerlei Papiere über ihre Geburt und auch<br />
keinen Taufschein hatten. Als der Pfarrer davon erfuhr,<br />
durfte sie den Konfirmandenunterricht nicht mehr mit den<br />
getauften Kindern zusammen besuchen. »Der Pfarrer übergab<br />
mir meine Aufgaben auf der Treppe.« (G41, JA Bremerhaven,<br />
1962)<br />
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