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individuellen Erfahrungen sich stark unterschieden und deshalb<br />
nicht in Erfahrungskategorien zusammengefasst werden konnten,<br />
wurde die Form eines Fließtextes ohne eingeschobene<br />
Zitate gewählt.<br />
Zu jedem Zitat wird die intern vergebene Gesprächnummer<br />
(ein G steht für ein persönlich geführtes Gespräch, ein T für ein<br />
Telefonat), das verantwortliche Jugendamt (JA) und das Jahr<br />
beziehungsweise der Zeitraum, auf den sich die Gesprächspassage<br />
bezieht, angegeben. Um welche Heime es sich jeweils<br />
handelt, wird in der Regel im Text benannt. 111<br />
3.3.1 Die Herausnahme aus der Familie<br />
und erste Eindrücke vom Heim<br />
Für alle Kinder und Jugendlichen wurde die Erstunterbringung in<br />
einem Heim, gelegentlich auch in einer Pflegefamilie, zu einem<br />
entscheidenden Wendepunkt. Weil sie zumeist gegen ihren<br />
Willen und ohne ihre Beteiligung stattfand, waren sie ihr hilflos<br />
ausgeliefert. Sie wurden von Fremden in die Fremde platziert.<br />
Was sie erwartete und was künftig von ihnen erwartet wurde,<br />
erfuhren sie erst bei der Ankunft an ihrem neuen Lebensort.<br />
Die Mehrheit der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner<br />
war bei der ersten Einweisung in ein Heim oder gelegentlich<br />
auch in eine Pflegefamilie noch zu klein, um sich an die<br />
konkreten Umstände der Herausnahme aus der Familie zu erinnern<br />
und um über erste Eindrücke von den Heimen zu berichten.<br />
Eine Ausnahme – wohl der besonderen Dramatik wegen –<br />
bildete ein bei der Herausnahme erst dreijähriger Junge, dessen<br />
Vater, ein Soldat, 1940 gegen seine Mutter einen Sorgerechtsentzug<br />
erwirkt hatte und frühmorgens mit der Polizei vor der<br />
Wohnung der Mutter stand, um ihn und seinen Bruder herauszunehmen.<br />
Ein Biss in den Hals<br />
»Ich weiß noch – die erste Erinnerung meines Lebens überhaupt<br />
– dass ich versucht habe, mich zu verstecken. Ich rannte um<br />
den Tisch herum, um nicht eingefangen zu werden und hab<br />
dann meinen Vater in den Hals gebissen. Natürlich schnappten<br />
sie mich. Ich kam nach St. Johannis, mein Bruder zu Verwandten.«<br />
(G28, JA Bremen, 1940)<br />
Auch schon etwas ältere Kinder erlebten die erste Heimeinweisung<br />
zumeist als tief einschneidendes Erlebnis und als erzwungenen<br />
Wechsel aus der ihnen vertrauten Umwelt in eine ungewisse<br />
Zukunft. Für viele waren die ersten Tage und Wochen<br />
geprägt von Tränen, Heimweh und Verlustängsten. Dies war<br />
vor allem der Fall, wenn den Kindern der Grund der Trennung<br />
nicht klar war. Aber auch eine selbst ersehnte oder selbst provozierte<br />
Herausnahme aus der Familie konnte, weil das, was<br />
dann kam, alle Hoffnung auf ein besseres Leben zerschlug, zu<br />
einem traumatischen Erlebnis werden.<br />
»Der Hausvater nahm mich dann in Empfang«<br />
Das Mädchen wurde Anfang der 1950er Jahre als Siebenjährige<br />
aus den »nicht geordneten Verhältnissen« ihrer Familie<br />
genommen: »Ein Mann vom Jugendamt holte mich zusammen<br />
mit meiner Mutter von zu Hause ab und brachte uns bis<br />
an die Tür von Alten Eichen. Ich wusste gar nicht, was mit mir<br />
geschah; auch meine Mutter konnte mir das nicht erklären.<br />
Der Hausvater nahm mich dann in Empfang. Noch bis heute<br />
weiß ich, wie er auf mich wirkte, nämlich groß, mächtig, graue<br />
Jacke, dunkle Haare. Bei der Einkleidung bekam ich dann die<br />
Nummer 27. Alle meine Sachen, die Strümpfe, alle trugen sie<br />
die 27.« (G5, JA Bremen, 1951)<br />
»... dann landete ich in einem deutschen Kinderheim«<br />
Die Gesprächspartnerin lebte bis zu ihrem 12. Lebensjahr<br />
bei liebevollen Pflegeeltern in der DDR. Die ihr unbekannte<br />
Mutter lockte sie unter einem Vorwand von hier nach Bremerhaven<br />
und brachte sie dann aber bei Verwandten unter.<br />
Sie erinnerte sich an ihren letzten Tag vor der Heimeinweisung<br />
bei diesen verhassten Leuten: »Es war kurz vor meinem<br />
13. Geburtstag, als mein Stiefvater eine Party gab. Ich musste<br />
schon um sechs in meinem Zimmer verschwinden. Plötzlich<br />
stand ein pechschwarzer Mann in meinem Zimmer. Ich schrie<br />
fürchterlich, lief schreiend aus dem Zimmer, aus der Wohnung<br />
und im Schlafanzug auf die Straße. Es dauerte nicht lange, und<br />
ich wurde von der Polizei aufgegriffen. Am nächsten Tag wurde<br />
ich zum Jugendamt gebracht und landete dann in einem<br />
deutschen Kinderheim, dem Renthe-Fink-Haus in Osnabrück.<br />
Hier begann dann für mich die Hölle.« (G20, JA Bremerhaven,<br />
1955)<br />
Nur geheult<br />
Der damals siebenjährige Junge wurde mit Zustimmung<br />
seiner Mutter in ein Aufnahmeheim gebracht. Die zuständige<br />
Jugendamtsmitarbeiterin hatte sie nach einigen Besuchen<br />
davon überzeugt, dass dies das Beste für den schwierigen<br />
Jungen sei. »Es dauerte nur 14 Tage und ich saß mit einer<br />
Begleitperson, meinem Persilkoffer und einer von meiner<br />
Mutter gestrickten Jacke im Zug. Die ersten Tage hab ich nur<br />
geheult und nach meiner Familie gerufen. Mir wurde immer<br />
versichert, dass dies nur eine vorübergehende Situation ist.<br />
Aber Scheiße, niemand kam von meiner Familie. Die wussten ja<br />
noch nicht mal, wo Urft und die Eifel ist. Meine Briefe wurden<br />
gar nicht erst abgeschickt, weil ich in ihnen die schlimme Situation<br />
im Heim schilderte und auch die Briefe meiner Mutter an<br />
mich wurden unterschlagen. Desto weniger ich von Zuhause<br />
hörte, desto verstörter wurde ich und reagierte auf alles und<br />
jeden aggressiv.« (G32, JA Rheinhausen, 1951)<br />
Besonders dramatisch gestaltete sich die erste Heimeinweisung<br />
in Fällen, in denen Kinder oder Jugendliche abrupt und unvorbereitet<br />
aus ihren Familien genommen oder direkt von der<br />
Straße weg in ein Heim oder zunächst in ein Aufnahmeheim<br />
gebracht wurden.<br />
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