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In die Selbständigkeit geworfen<br />

Besonders problematisch war die Heimentlassung für jene Kinder,<br />

die weite Teile oder sogar ihr ganzes Kinder- und Jugendleben<br />

in Heimen verbracht hatten. Da sie immer unter reglementierten<br />

und isolierten Bedingungen, immer in beaufsichtigten Gruppen<br />

gelebt hatten, waren sie nicht auf ein selbständiges Leben<br />

vorbereitet. Das folgende extreme Beispiel zeigt diese Problematik<br />

auf:<br />

Nach 23 Jahren unvorbereitet ins Leben<br />

Seine Mutter gab ihn gleich nach der Geburt in ein Säuglingsheim.<br />

Schon bald galt der körperlich leicht beeinträchtigte<br />

Junge auch als geistig behindert. Nachdem er diverse<br />

Heime durchlaufen hatte, konnte er nach einer Lehre in<br />

einem Berufsbildungswerk als junger Erwachsener den<br />

Makel der geistigen Behinderung endgültig ablegen. Auf ein<br />

Leben in Selbständigkeit hatte ihn aber niemand vorbereitet.<br />

»Wir waren völlig entmündigt, es wurde uns immer alles<br />

vorgeschrieben, ich hatte praktisch nie einen Schritt allein<br />

gemacht.« Er wurde erst als 23-Jähriger in seine Heimatstadt<br />

Bremen, die er aber kaum kannte und in der er keine tragfähigen<br />

Kontakte hatte, völlig unvorbereitet entlassen. »Ich<br />

musste mir selbst eine Wohnung besorgen, hatte aber keine<br />

Möbel, ich konnte nicht kochen, ich hatte kein Geld. In meiner<br />

Not hab ich einen Pastor angerufen. Er und eine Gemeindeschwester<br />

haben mir geholfen, Möbel für die leere Wohnung<br />

aufzutreiben, die Gemeindeschwester hat mich zum Essen<br />

eingeladen. Ohne die beiden hätte ich es nie geschafft.«<br />

(G16, JA Bremen, 1978)<br />

Ähnlich erging es einem anderen Gesprächspartner, der von den<br />

ersten 17 Lebensjahren 16 in Heimen lebte, was mit erheblichen<br />

Folgen für seine gesellschaftliche Integration verbunden war:<br />

Nie gelernt, wie man lebt<br />

»In dem Heim hab ich nichts gelernt, nicht lesen und schreiben,<br />

nicht gelernt, wie man lebt; nicht gelernt, wie man sich draußen<br />

verhält, nicht mal gelernt, was Sexualität ist. Und dann<br />

wurde ich zurück nach Bremen geschickt, in das JWH Dobbheide.<br />

Da war es die Hölle, nicht unbedingt der Erzieher wegen,<br />

aber wegen der anderen Jungen. Auf so was, ihre Brutalität, die<br />

Kriminalität, die Drogen, war ich überhaupt nicht vorbereitet.<br />

Als ich 17 war, hat man mir dann eine eigene kleine Wohnung<br />

zugestanden. Auch die hat mich dann restlos überfordert. Ich<br />

fand keine Lehre, Jugendliche aus Dobbheide nutzten die Wohnung<br />

als Liebesnest, und ich geriet an eine kriminelle Zuhälterbande.<br />

Als ich mich gerade lösen wollte, hat man mich bei<br />

irgendwas erwischt und mich zu einem Jahr Jugendknast verurteilt.<br />

Da wollte man mich dann auf Bewährung entlassen,<br />

aber ich wollte das nicht. Ich wollte mit dem ganzen Sozialarbeitskram<br />

nichts mehr zu tun haben.« (G43, JA Bremen, 1973)<br />

Vom Regen in die Traufe: Entlassung in den<br />

Strafvollzug<br />

Für zwei der Gesprächspersonen endete die Heimerziehung<br />

unmittelbar mit ihrer Inhaftierung, für einen weiteren auf dem<br />

Umweg über die Bundeswehr. Die Not, unter der die Kinder<br />

und Jugendlichen dabei handelten, wird in zwei Beispielen<br />

deutlich:<br />

Zur Kriminellen abgestempelt<br />

Sie wurde aus ihrer Pflegefamilie herausgerissen und auf<br />

Veranlassung von Verwandten in ein Erziehungsheim<br />

gebracht. Dort verweigerte man ihr den Schulbesuch und<br />

setzte sie den Anzüglichkeiten einer Erzieherin aus. Es folgten<br />

Verlegungen in zwei geschlossene Heime. Aus diesen<br />

Heimen riss sie aus. Bei den Entweichungen nahm sie sich,<br />

was zum Überleben nötig war, wurde von ›Freiern‹ beherbergt<br />

und ›klaute‹ einem dann 16 DM aus dem Sparschwein<br />

»So wurde ich zur Kriminellen abgestempelt und schon in frühester<br />

Jugend zu Jugendarrest und Haft verurteilt. Immerhin:<br />

Ein Heim wollte mich nicht mehr.« (G20, JA Bremerhaven,<br />

1957)<br />

Alles war Neuland<br />

Er lebte 12 Jahre in fünf verschiedenen Heimen, in denen er<br />

Schläge bekam, Degradierungen erlebte und drei Mal in ein<br />

noch strengeres Heim abgeschoben wurde. Aus dem letzten<br />

Heim entließ man den jungen Mann zur Bundeswehr. »Hier<br />

war alles Neuland für mich: Geld, Freizeit, Mädchen. Ich kam<br />

damit nicht zurecht, kam häufig vom Ausgang zu spät zurück<br />

in die Kaserne und musste deshalb häufig in den Arrest, was<br />

mit der Kürzung meines Solds verbunden war. Ich bin schließlich<br />

ausgerückt und wurde von den Feldjägern gesucht. Um<br />

endlich mal zu schlafen, brach ich in ein leerstehendes Haus<br />

ein. Ich wurde geschnappt, in U-Haft gebracht und schließlich<br />

wegen Einbruch und Fahnenflucht zu 15 Monaten Haft verurteilt.«<br />

(G37, JA Buxtehude, 1964)<br />

Entlassung zu Angehörigen<br />

Zu Angehörigen wurden insgesamt sieben Gesprächspersonen<br />

entlassen. Für vier Personen, alle aus emotional stabilen Verhältnissen<br />

kommend, kehrte damit auch wieder Normalität in<br />

ihr Leben ein, und sie durchliefen eine ›normale‹ Jugend. Die<br />

anderen drei wurden in eine weiterhin instabile Situation entlassen,<br />

die sie eher noch weiter von den Angehörigen entfremdete<br />

und die Integration erschwerte. In einem dieser Fälle kam<br />

der als Kind von einem »schrecklichen Stiefvater« in das Heim<br />

der Bremer Wollkämmerei gebrachte Junge nach dessen Schließung<br />

und nach »wunderbaren Jahren« in diesem Heim zu eben<br />

diesem Stiefvater zurück. Erst mit Hilfe seiner ehemaligen Erzieherin<br />

gelang es ihm, der Tyrannei des Stiefvaters wieder zu ent-<br />

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