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Stationen der Jugendhilfemaßnahmen:<br />

Waisenstift Varel (1961)<br />

Stephansstift Hannover (1962)<br />

LWH Stackkamp (1963)<br />

Freistatt (1963/64)<br />

Aus der Kindheitsgeschichte:<br />

Der Gesprächspartner wurde 1948 als Kind taubstummer Eltern<br />

geboren. Es gab noch eine etwas ältere Schwester. Der Vater<br />

arbeitete als Schneidermeister und auch die Mutter war<br />

berufs tätig. Seine Mutter schildert er als liebevoll. Der Vater war<br />

erst nach drei Bieren »o.k.«, sonst eher tyrannisch. Typisch für<br />

die Familie war eine besonders hohe Ordnungs- und Sauberkeitsliebe.<br />

»In unserer Wohnung gab es kein einziges Staubkorn.«<br />

In ihrer Umgebung hatten es Eltern und Kinder nicht leicht. Die<br />

Taubstummheit und Ordnungsliebe der Eltern waren immer<br />

wieder Anlass für Hänseleien. »Wir hatten einen von den Eltern<br />

sorgfältig gepflegten Vorgarten. Wenn die gewünschte Ordnung<br />

des Gartens beispielsweise von fußballspielenden Kindern gestört<br />

wurde, schickte mich der Vater auf den Balkon, um die Kinder zu<br />

vertreiben. Das endete dann immer mit Beschimpfungen und<br />

Hohngelächter. Das war mir aber immer noch lieber, als wenn<br />

mein Vater selbst versuchte, die Kinder zu vertreiben. Die Kinder<br />

johlten, wenn er sie mit den wenigen ihm verfügbaren Lauten zu<br />

vertreiben suchte. Na ja, im Faschismus hatte man meinem Vater<br />

noch mit Kastration gedroht.«<br />

Zum Anlass für die Heimeinweisung des 13-jährigen Jungen<br />

wurden Schwänzen und Prügeleien in der Schule. Er hatte es<br />

auf 50 Fehltage im Halbschuljahr gebracht. »Außerdem hatte ich<br />

schon früh Kontakt mit trinkenden jungen Männern. Zuhause bei<br />

den taubstummen Eltern und der Schwester, die nur Männer im<br />

Kopf hatte und immer weg war, war es mir einfach zu langweilig.<br />

Nach 22 Uhr bin ich immer in die Kneipe abgehauen.«<br />

Im Waisenstift Varel<br />

Zunächst kam er in das Waisenstift Varel. Aus seiner Zeit dort<br />

berichtete er nicht viel: Morgens gingen die Kinder in die Schule,<br />

nachmittags mussten sie arbeiten. Das Essen war schlecht. Mit<br />

Freunden haute er von hier ab und schlug sich zu seiner Mutter<br />

durch, die ihn 14 Tage versteckte. Mit Einwilligung des Jugendamtes<br />

durfte er dann drei Monate zu Hause bleiben. Nach erneuten<br />

Vorkommnissen wies man ihn in die Aufnahmeabteilung<br />

der diakonischen Einrichtung Stephansstift bei Hannover ein.<br />

Im Stephansstift 123<br />

»Da kam ich zuerst in die Abteilung für Jugendliche. Für alle Neuzugänge<br />

gab es erstmal eine geschlossene Aufnahmegruppe. Mir<br />

wurden als erstes Kleidungsstücke zugeteilt: Kleidung für den<br />

Kirchgang, für die Arbeit und für die Freizeit. In der Aufnahmegruppe<br />

schlief man zu Zehnt in einem Schlafsaal. Später, nach<br />

meiner Verlegung in ein anderes Heim vom Stephansstift, gab es<br />

Zwei- oder Dreibettzimmer. Die meisten Erzieher hier waren schreckliche,<br />

unausgebildete Tyrannen. Nur ein Erzieher und ein Arbeitserzieher<br />

waren in Ordnung. Der nette Erzieher verstand, uns zu nehmen.<br />

Um unsere Rauflust positiv zu wenden, baute er im Tagesraum<br />

einen Boxring auf. Wir hatten mehrere richtig gute Boxer und<br />

Ringer unter uns.«<br />

Verfehlungen wurden im Heim mit Stockschlägen oder Arrest<br />

bestraft. Das Prügeln vollzog der stellvertretende Heimleiter.<br />

»Man durfte sich bei ihm selbst aussuchen, mit welchem Stock seiner<br />

umfangreichen Sammlung man geschlagen werden wollte.«<br />

Daneben gab es diverse Schikanen der Erzieher. »Ein guter<br />

Freund von mir musste kurz nach seiner Ankunft als Strafe 14<br />

Eimer Wasser im Keller ausschütten und das Wasser dann wieder<br />

mit einem Feudel aufnehmen. Ich selbst musste über mehrere<br />

halbe Nächte hinweg den Fußboden spänen und schrubben. Als<br />

ein Weihnachtsurlaub bevorstand, wollte ich mir die zwangsweise<br />

kurz geschorenen Haare länger wachsen lassen. Das ließ sich<br />

durch den Kragen des Trainingsanzugs, wir trugen alle schwarzblaue<br />

Trainingsanzüge, eine Weile kaschieren. Als sie mich dann<br />

doch erwischten, wurde der Urlaub gesperrt.«<br />

Die Jugendlichen arbeiteten im Haushalt oder in der heimeigenen<br />

Landwirtschaft auf dem Feld. Dort wurden Rüben und<br />

Sonstiges gezogen oder Erdbeeren gepflückt. Die Arbeit an sich<br />

war für ihn kein Problem, denn das kannte er von zu Hause. Es<br />

gab aber auch ausgesprochen schwere Arbeit, zum Beispiel bei<br />

einer Zeltbau-Firma, bei der zentnerschwere Spanplatten<br />

geschleppt werden mussten. »Schleppen können« brachte<br />

einem Anerkennung.<br />

Sonntags war der Kirchgang obligatorisch. »Das gab mir wenigstens<br />

die Gelegenheit, mal die Dorfschönheiten zu bewundern.«<br />

Ansonsten war das Leben im Heim, in diesem wie auch in den<br />

nachfolgenden, entscheidend von der Hierarchie unter den<br />

Jugendlichen geprägt. »Man musste sich seine Stellung im Heim<br />

durch den Beweis von Stärke erkämpfen. Zu den Stärksten zu<br />

gehören, war das ersehnte Ziel von Jedem. Die Kämpfe entschieden<br />

über die genaue Position in der Hierarchie, der Allerstärkste,<br />

der Zweitstärkste und so weiter. Ich selbst konnte mir immer eine<br />

obere Position erkämpfen. Das brachte die Möglichkeit, andere zu<br />

›beschäftigen‹, zum Beispiel, sich die Schuhe putzen zu lassen.<br />

Besonders schwer hatten es die Schwachen. Ein homosexueller<br />

Junge etwa musste eine Menge über sich ergehen lassen und<br />

wurde von allen fertig gemacht. Als ich mich einmal für ihn einsetzte,<br />

hat mir das dann sofort den Argwohn der Anderen eingebracht.<br />

Ich hatte andererseits aber den Schutz durch einen noch<br />

Stärkeren, einem richtigen Kraftprotz, aber Analphabet. Der half<br />

mir beispielsweise bei der Feldarbeit.«<br />

Aus seiner Einrichtung entwich der Jugendliche insgesamt 23<br />

Mal. Das waren aber oft nur kurze Episoden über einen Nachmittag.<br />

Das längste Ausreißen führte ihn wieder nach Bremen<br />

zur Mutter, wo er nach 14 Tagen geschnappt wurde und dann<br />

eine Woche in der Ostertorwache verbringen musste. Danach<br />

kam er zurück in die Strafabteilung des Heims.<br />

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