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sie dies ablehnte (»Ich hatte doch meine Mutter«) schlug er sie.<br />
Die Pflegeeltern beschlossen, sie wieder abzugeben und wandten<br />
sich deshalb an das Jugendamt. Das Jugendamt entdeckte,<br />
dass das Mädchen noch Tante und Onkel hatte. Die beiden<br />
erklärten sich bereit, das jetzt 14-jährige Mädchen zu sich zu<br />
nehmen.<br />
In dieser Pflegefamilie gab es noch zwei jüngere Kinder, eine<br />
Cousine und einen Cousin. Tante und Onkel tranken und die<br />
Jugendliche musste auf die beiden Kinder aufpassen. Häufig<br />
ging sie mit ihnen im Bürgerpark spazieren. Bei einem der Ausgänge<br />
wurde sie von einigen Jungen geneckt. Sie rissen ihr die<br />
Mütze vom Kopf, und das Mädchen rannte hinterher, um sie<br />
sich wieder zu holen. Die Cousine und der Cousin berichteten<br />
später zu Hause, sie habe mit Jungs herum poussiert. Dafür<br />
schlug der Onkel sie mit einem Stock mit Riemen. Sie begann<br />
gegen die Pflegeeltern zu rebellieren. Um<br />
diese Zeit erkrankte sie zudem an TB. Zur<br />
Ausheilung kam sie in die Lungenheilanstalt<br />
Holdheim in Oberneuland, wo es nur<br />
bestes Essen gab: Butter, Obst etc. Das war<br />
die Jugendliche gar nicht gewohnt, da es in<br />
der Familie nur Trockenbrot gab. Sie hamsterte die ganzen Leckereien.<br />
»Die Tante hat alles mitgenommen und selbst gegessen.«<br />
Nach ihrer Schulentlassung stellte ihr Amtsvormund, der auch<br />
ihre Waisenrente verwaltete, fest, sie müsse nun arbeiten. Sie<br />
wurde in einen Haushalt vermittelt, in dem sie beispielsweise<br />
lernte, wie man mit einem Stock überprüft, ob das Bettlaken<br />
wirklich glatt gezogen ist. Auch einen Ehrlichkeitstest der Hausherrin<br />
bestand sie. Diese hatte Geld unter den Teppich gesteckt,<br />
um zu überprüfen, ob sie klaue. Die Zeit in der Pflegefamilie<br />
endete, als eines Tages der Cousin bei ihr auf dem Bett saß, um<br />
sie wegen irgendetwas zu trösten. Die Pflegemutter kam dazu<br />
und schrie: »Du verführst meinen Sohn.« Das Jugendamt wurde<br />
eingeschaltet und man brachte die 17-Jährige in das Dorotheenheim.<br />
Im Dorotheenheim<br />
Im Dorotheenheim auf dem Gelände der Vereinigten Anstalten<br />
Friedehorst traf sie auf Mädchen, die »anders drauf waren« als<br />
sie. »Es kam vor, dass sich ein Mädchen zu mir ins Bett legte. Die<br />
wollten mich lesbisch machen!« Sie wurde auch zum Rauchen<br />
und zum Abhauen verleitet. »Ich hab schon deswegen mitgemacht,<br />
weil ich nicht im Abseits stehen wollte.« Zweimal lief sie<br />
aus dem Heim davon, mit Betttüchern über die Wand. »Ich bin<br />
immer in die Straße gelaufen, wo ich zur Schule gegangen bin und<br />
in der meine Mutter gewohnt hatte.« Die Eltern einer alten Schulfreundin<br />
verpfiffen sie bei der Polizei. Sie wurde in das Heim<br />
zurück gebracht und musste zur Strafe für zwei Tage in den Keller.<br />
»Hier gab es nur ein Bett und einen Nachttopf. Danach musste<br />
ich den Parkettboden schrubben, bis er wieder glänzte. Ein paar<br />
Striche links, ein paar rechts, wie der Parkettboden eben aussah.«<br />
Die Regeln im Heim waren streng. »Beim Essen durfte man nicht<br />
reden, Hände immer auf dem Tisch, nicht schlürfen.« Die Mädchen<br />
mussten viel arbeiten. »Nett fand ich aber den Anstaltsleiter<br />
von Friedehorst. Er wohnte im Nachbarhaus. Zu ihm konnte man<br />
mit Sorgen gehen und sich ihm anvertrauen. Er kam auch ins<br />
Haus, um mit uns zu beten. Ich durfte außerdem einen Verwandten<br />
besuchen, der in der Behinderteneinrichtung von Friedehorst<br />
lebte.« Vom Dorothhenheim wurde die Jugendliche nach sechs<br />
Monaten wegen eines erneuten Entweichungsversuchs in das<br />
Isenbergheim verlegt.<br />
Im Isenbergheim<br />
Wer aus dem Heim<br />
weg lief, kam zur Strafe<br />
in eine Arrestzelle.<br />
Im Heim versuchte jeder, sich irgendwie durchzusetzen. »Für<br />
mich war das nicht leicht. Von meiner Kinderlähmung hatte ich<br />
eine Gehbehinderung übrig behalten. Ich hab mich dafür immer<br />
etwas geschämt und musste mir auch tatsächlich<br />
manches gefallen lassen. Im Heim<br />
war es eigentlich aber ganz gut, man<br />
musste sich aber anpassen. Prügel und<br />
Schläge gab es nie. Wer was gemacht hatte,<br />
musste zur Strafe von morgens bis abends<br />
Kartoffeln schälen. Es wurde einem auch mal die Bettdecke weggezogen<br />
und ein Eimer Wasser über den Kopf gegossen, wenn<br />
jemand nicht aufstehen wollte. Wer weglief kam in ein geschlossenes<br />
Zimmer, eine Arrestzelle. Wenn man zur Toilette wollte, musste<br />
man klopfen.«<br />
Die Jugendliche kam mit einer der Erzieherinnen gut zurecht.<br />
Mit ihr ging sie immer in die Kirche. »Da hab ich auch im Kirchenchor<br />
mitgesungen und in Krippenspielen mitgespielt. Einmal<br />
durfte ich sogar die Maria singen.« Auch im Heim wurde gebetet<br />
und sonntags ging es, immer im Gänsemarsch in Zweierreihen,<br />
in die Kirche. »Das interessierte aber niemanden von uns Mädchen,<br />
höchstens, dass man so mal nach draußen kam.« Was häufig<br />
vorkam, war, dass Mädchen aus dem Heim fortliefen. »Wenn<br />
man Pech hatte, wurde man dann nach Himmelspforten oder nach<br />
Hannover in den Birkenhof versetzt. 122 Von da kamen manchmal<br />
auch Mädchen zu uns. Wenn Mädchen vom Weglaufen zurückgebracht<br />
wurden, haben wir immer im Kreis gesessen, und sie haben<br />
von ihren Erlebnissen erzählt. Da hab ich dann Dinge mitgekriegt,<br />
von denen ich noch nie etwas gehört hatte.« Beliebt war es auch,<br />
ins Haus Neuland zu den Jungen auszureißen. »Da hat man<br />
dann rumpoussiert, geraucht und Bier getrunken.« Sie selbst lief<br />
aus dem Isenbergheim nie weg. Einmal aber täuschte sie eine<br />
Blindarmentzündung vor, um mal aus dem Heim rauszukommen.<br />
»Den Tipp hatte ich von anderen Mädchen. Ich kam also ins<br />
Krankenhaus, wo man schnell feststellte, dass mit dem Blinddarm<br />
nichts los war. Der Arzt entdeckte aber meinen verunstalteten Fuß<br />
von der Kinderlähmung. Er überwies mich zu einem Orthopäden.<br />
Nach und nach wurde mein Fuß neu gerichtet. Heute ist zwar<br />
immer noch was zu sehen, aber viel weniger. Ein bisschen schäme<br />
ich mich noch heute, wenn die Leute mir nachgucken.«<br />
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