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Spätfolgen der Sexualunterdrückung<br />
Da Sexualität geächtet wurde beziehungsweise verboten war,<br />
mussten sexuelle Kontakte heimlich erfolgen. Hinzu kam die<br />
mangelnde körperliche Zuwendung des Personals (in den Arm<br />
nehmen, Trost spenden), die bei gleichzeitiger Überbetonung<br />
von Hygiene und körperlichen Strafen einen gesunden Umgang<br />
mit der eigenen Körperlichkeit erschwerte. Insgesamt führte<br />
dies bei manchen der Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner<br />
zu einem gestörten Verhältnis zu ihrer eigenen Sexualität,<br />
die im späteren Lebensweg eine Belastung darstellte.<br />
Angst vor Intimität und Körperlichkeit<br />
Der Gesprächspartner berichtete, dass er als Folge seiner<br />
langjährigen Heimerziehung noch heute Angst vor Intimität<br />
und körperlicher Berührung hat. Beide lösen bei ihm einen<br />
»richtigen körperlichen Schmerz« aus. (G16, JA Bremen, 1954<br />
– 1978)<br />
Sexuelle Probleme in die Ehe getragen<br />
Nach der Darstellung ihrer verschiedenen Heim- und Pflegestationen<br />
berichtete die Gesprächspartnerin von erheblichen<br />
sexuellen Problemen in der Ehe. Sie sieht diese als Folgeschäden<br />
der Heimerziehung, die nur Dank ihres verständnisvollen<br />
Ehemanns tragbar gewesen seien. (G45, JA Bremen,<br />
1944 – 1959)<br />
Sexuelle Gewalt<br />
Von diesem allgemeinen Umgang mit Sexualität muss das Thema<br />
der sexuellen Übergriffe und des sexuellen Missbrauchs in der<br />
öffentlichen Erziehung unterschieden werden. 116 Wie auch vom<br />
Runden Tisch in Berlin festgestellt, stellen sie innerhalb der »vielen<br />
Orte des Bösen« (Antje Vollmer) ein besonders dunkles Kapitel<br />
dar. 117 Die abgeschirmte, von außen schwer einsehbare<br />
Lebenswelt in den oft isolierten ›totalen Institutionen‹ bot<br />
Raum für sexuellen Missbrauch an den Kindern und Jugendlichen.<br />
118 Täter der unterschiedlichen Formen der geschilderten<br />
Übergriffe, die bis zu Vergewaltigungen reichten, waren überwiegend<br />
männliche Mitarbeiter der Heime oder durch andere<br />
Funktionen an der öffentlichen Erziehung beteiligte Personen<br />
(Lehrer, Pflegeväter), die die Möglichkeiten der bestehenden<br />
Abhängigkeitsverhältnisse für ihre Zwecke ausnutzten. Die<br />
eigentlich schutzbefohlenen Kinder und Jugendlichen waren<br />
diesen gewaltsamen Übergriffen ohnmächtig ausgeliefert.<br />
Von den 53 Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern<br />
berichteten 14 über einen sexuellen Missbrauch und weitere<br />
deuteten ihn zumindest an. Sechs von ihnen schilderten sexuelle<br />
Übergriffe durch das Heimpersonal. Ein Junge durch einen<br />
Praktikanten im St. Petri Waisenhaus Anfang der 1950er Jahre<br />
(G9), ein Mädchen, das wegen sexuellen Missbrauchs durch<br />
einen Familienangehörigen ins Heim eingewiesen worden war,<br />
durch einen Lehrer im kommunalen Kinderwohnheim Fichtenhof<br />
(G39, JA Bremen, Mitte der 1950er Jahre), der Bruder eines<br />
im St. Johannis Kinderheim untergebrachten Mädchens durch<br />
einen Theologen aus der zum Heim gehörenden Gemeinde (G3,<br />
um 1955), ein dreizehnjähriges Mädchen durch eine Ordensschwester<br />
im Dorotheenheim (G20, 1955). Von schweren Übergriffen<br />
wurde auch aus auswärtigen Heimen berichtet:<br />
Über Monate missbraucht<br />
Im Alter zwischen zehn und 15 lebte der Gesprächspartner<br />
in einem Heim in Nordrhein-Westfalen. Nach seinem ersten<br />
Weglaufen sperrte man ihn für sechs Monate in eine Zelle,<br />
ohne Schulunterricht, ein. Beim zweiten Ausreißversuch gab<br />
es Arrest fast für ein ganzes Jahr. »Da gab es für mich extra<br />
einen Aufpasser. Der schlich sich jeden Abend zu mir und missbrauchte<br />
mich. ›Wenn du mitmachst, kannst du hier früher<br />
raus‹, versuchte der mich zu locken.« (G6, JA Mönchengladbach,<br />
1964 – 1969)<br />
Im Dachzimmer missbraucht<br />
Der Gesprächspartner berichtete, dass er (und auch andere<br />
Kinder) im Alter von 14 Jahren von zwei Mitarbeitern eines<br />
Erziehungsheims bei Kassel mit in ein Dachzimmer genommen<br />
worden sei. »Wir mussten uns mit dem Bauch auf einen<br />
Tisch legen. Mehr brauche ich ja wohl nicht erzählen. Einige<br />
Kinder lernten ›lieb zu sein‹. Die mussten dann keine schweren<br />
Arbeiten mehr machen.« (G9, JA Bremen, 1953 – 1954)<br />
Neben dem Missbrauch durch Erziehungspersonal und andere<br />
Erwachsene gehörte zur Subkultur der Erziehungsheime nicht<br />
selten auch, dass sich ältere überlegende Zöglinge der Schwächeren<br />
für ›sexuelle Dienste‹ bedienten. Verschiedentlich wurde<br />
von einem sexuellen Missbrauch durch ältere Jugendliche<br />
berichtet und dabei auch Erzieherinnen und Erziehern eine Mitschuld<br />
gegeben.<br />
Als Ventil in Kauf genommen<br />
»Sexuelle Übergriffe durch Ältere gehörten bei uns zum Alltag.<br />
Wer nicht freiwillig mitmachte, wurde verdroschen. Die Erzieher<br />
hätten es eigentlich wissen müssen, schwiegen aber. Die haben<br />
das wohl als Ventil in Kauf genommen.« (G32, Erziehungsheim<br />
Euskirchen, 1958)<br />
Die Erzieherinnen glaubten ihr nicht<br />
Mit elf Jahren kam die Gesprächspartnerin in ein kleines privates<br />
Heim in der Rhön und blieb hier bis zum 18. Lebensjahr.<br />
»Schon bald nach meiner Ankunft wurde ich das erste Mal<br />
von einem 18-Jährigen aus dem Heim missbraucht. Das setzte<br />
sich dann über Jahre fort. Das erste Mal hab ich mich an meine<br />
Erzieherin gewandt, die wollte davon aber nichts wissen,<br />
obwohl ich blutete.« (G1, JA Bremen, 1973)<br />
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