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Von der Straße ins Polizeiauto<br />

»Meine Familie – ich bin Halb-Roma, mein Vater war wandernder<br />

Korbmacher – zog mit unserem Wohnwagen durch<br />

Deutschland. Als wir einmal in Bremen waren, wurden mein<br />

Bruder und ich von der Straße weg in ein Polizeiauto geladen,<br />

zu einem Arzt gefahren und dann in das Bremer Auffangheim<br />

(Lesmona) gebracht. Man hat dann meine Eltern – ich war<br />

gerade sieben Jahre alt – zwar informiert, sie durften aber nicht<br />

zu mir. Ich weiß noch, wie meine Mutter weinend am Gitter rüttelte<br />

und nach mir rief. Es half alles nichts. Nach fünf Wochen<br />

hat man mich dann ins Ruhrgebiet, an den festen Wohnort<br />

meiner Eltern, transportiert und mich da in ein Heim gebracht.«<br />

(G6, JA Bremen, 1961)<br />

Eine kleine ›Flucht‹ mit schlimmen Folgen<br />

»Nach unserem Fluchtversuch mit dem kleinen Segelschiff von<br />

Bremerhaven nach Amerika steckte uns die Polizei, direkt vom<br />

Hafen weg, in U-Haft. Angeblich, weil wir was geklaut hatten.<br />

Obwohl sich herausstellte, dass es nicht stimmte, holte man<br />

mich dann, ohne Abschied von den Eltern und ohne zu wissen<br />

wohin, mit einem VW-Bus ab und fuhr mich nach Bremen. Wir<br />

hielten vor einem großen gelben Haus mit einem wunderschönen<br />

Garten. Ich erfuhr erst jetzt, dass ich im Ellener Hof gelandet<br />

war. Die beiden Begleiter gaben mich dann an der Pforte<br />

ab. Im Büro gab es dann zuerst ein paar dumme Sprüche vom<br />

Heimleiter. Dann kam ein Erzieher und begrüßte mich den<br />

Worten: ›Du hast so wunderschöne blaue Augen, na dann<br />

wollen wir Dich mal einkleiden.‹ Ich bekam Anstaltskleidung,<br />

blau, grau, jedes Kleidungsstück mit einer (verdeckten) Nummer<br />

versehen, und Holzlatschen, danach ging es ins Haus 5,<br />

die geschlossene Abteilung.« (G14, JA Bremerhaven, 1966)<br />

In einigen Fällen wurde die Herausnahme aus der Familie aber<br />

auch als ›Erlösung‹ aus einer bis dahin unerträglichen Situation<br />

erlebt. Dies war dann der Fall, wenn sie mit einer spürbaren Verbesserung<br />

der Lebensbedingungen verbunden war oder jedenfalls<br />

im Rückblick als eine Wende zum Positiven interpretiert<br />

werden konnte. Dies galt etwa für einen Jungen im Vorschulalter,<br />

der sein Leben im Prostitutionsmilieu gegen eine in seiner<br />

Wahrnehmung geborgene Kindheit im Pförtnerhaus des Heims<br />

am Fuchsberg tauschte (G22, Ja Bremen, 1948) oder für einen<br />

neunjährigen Jungen, den das Jugendamt vom tyrannischen<br />

Stiefvater befreite und ihn in die Geborgenheit des kleinen<br />

Heims der Bremer Wollkämmerei brachte (T4, JA Bremen, 1949).<br />

3.3.2 Heimverlegungen und Wechsel<br />

in Pflegefamilien<br />

Unterschiedliche Gründe führten zu Heimverlegungen oder<br />

den Wechsel in eine Pflegefamilie. Die Einrichtungsdifferenzierung<br />

nach Altersgruppen (Säuglings- und Kleinkindheime, Kinderheime,<br />

Heime für Jugendliche) sorgte bereits routinemäßig für<br />

Heimverlegungen. Begünstigt durch die hierarchische Anordnung<br />

der Heime (offene, halbgeschlossene und geschlossene<br />

Heime) – eine zweite Differenzierungsform – gehörten auch<br />

Verlegungen aus disziplinarischen Gründen und nach dem<br />

Weglaufen eines Kindes oder Jugendlichen zum Programm der<br />

Heimerziehung. Ein weiterer wichtiger Grund für den Lebensortswechsel<br />

waren Vermittlungen in und Rückführungen aus Pflegefamilien<br />

in Heime. 112 Sehr selten kam es vor, dass Kinder von<br />

Angehörigen aufgenommen wurden. Kam es auch in diesen<br />

Familien zu Schwierigkeiten, wechselten sie von dort wieder in<br />

Heime oder Pflegefamilien.<br />

Für die Kinder und Jugendlichen bedeutete jede Verlegung<br />

eine erneute Umorientierung und den Verlust aufgebauter sozialer<br />

Beziehungen, selbst dann, wenn sich im Rückblick ihre<br />

Situation zum Besseren veränderte. Wenn sie, was nicht selten<br />

der Fall war, vier, fünf oder noch mehr Wechsel des Lebensortes<br />

erlebten, konnte sich dies in Ohnmachtgefühlen, Zersplitterung<br />

der Biographie und Identitätsverlust, dem Gefühl, von Niemandem<br />

geliebt zu werden und zu Rachegefühlen einer als feindlich<br />

erlebten Umwelt gegenüber verdichten. Dies galt besonders,<br />

weil sie selten in Entscheidungsprozesse einbezogen<br />

waren. Über den Wechsel entschieden Mitarbeiterinnen und<br />

Mitarbeiter in Jugendämtern oder Landesjugendämtern, die sie<br />

nie oder selten zu Gesicht bekamen. Diese wiederum fällten<br />

ihre Entscheidungen zumeist nach ›Aktenlage‹, auf dem Hintergrund<br />

von Berichten aus den Heimen, auf deren Inhalt die Kinder<br />

und Jugendlichen selbst keinen Einfluss hatten.<br />

Der häufige Wechsel von Lebensorten, der viele der Lebensläufe<br />

nachhaltig und oftmals beeinträchtigend beeinflusst hat,<br />

wird von den Betroffenen zumeist nur als etwas beschrieben,<br />

was mit ihnen geschah. In ihrer Erinnerung erscheint ihnen ihr<br />

Leben zudem deutlich geprägt von Diskontinuität, der Erfahrung,<br />

nicht erwünscht zu sein, abgeschoben und für ihr Fehlverhalten<br />

bestraft worden zu sein. Im Extremfall konnten sie<br />

sich, wie die beiden nachfolgenden Beispiele zeigen, nicht einmal<br />

mehr an die einzelnen Lebensstationen erinnern.<br />

Immer wieder abgeschoben<br />

»Weil ich Bettnässerin war, gab mich meine Mutter mit drei<br />

Jahren ins Isenbergheim. Von da aus kam ich in eine Pflegefamilie<br />

und danach noch in ein paar andere Pflegefamilien. Ich<br />

weiß nicht mehr, wie viele es waren; ich wurde immer wieder<br />

abgeschoben. In der Nachkriegszeit war ich auch in Alten<br />

Eichen und zwischendurch auch mal in Everinghausen. Mit<br />

zehn oder elf kam ich wieder in mehrere Pflegefamilien nacheinander.<br />

Von der letzten wurde ich zum Arbeiten zum Bauern<br />

geschickt, da hab ich es nicht lange ausgehalten und dann<br />

noch ein paar Mal die Stelle gewechselt. Irgendwann war ich<br />

dann auch noch mal vier Wochen im Isenbergheim.« (T3, JA<br />

Bremen, 1936 – 1955)<br />

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