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»Es sind unzählige Gründe, die in der Gegenwart zur Gefährdung<br />

oder Auflösung der Familienbindungen führen. Zu den<br />

äußeren Gründen, dem harten Eingriff dieses scheinbar allmächtigen<br />

Schicksals (…) kommen die inneren Ursachen,<br />

die in den menschlichen Unzulänglichkeiten begründet<br />

liegen. Alle diese Ursachen wirken aufeinander, wie ein treibender<br />

Keil auf den anderen, um die Keimzelle aller sozialen<br />

Ordnung, die Familie und ihre Bindungen zu lockern und zu<br />

sprengen.« 265<br />

Dieser Diagnose folgte dann der Therapievorschlag des Kinder-<br />

Wohnheims. Es sollte »Kindern vorübergehend oder für die Zeit<br />

ihres Heranwachsens das elterliche Heim und die elterliche Liebe<br />

ersetzen.« 266<br />

Ab 1953 zeichnete sich allerdings eine erneute Umorientierung<br />

für die Arbeit der KWH und eine neue Funktionsbestimmung<br />

ab. Die neue Konzeption wollte die Kinder so rasch wie möglich<br />

in Pflegefamilien vermitteln oder in die Herkunftsfamilie zurückgeben.<br />

Der Heimaufenthalt degenerierte zu einer »Schon- und<br />

Ausgleichszeit«, der beendet werden musste, »sobald diese Kinder<br />

sich wieder gefangen haben und das seelische Gleichgewicht<br />

gewonnen wurde.« 267 Der Heimaufenthalt ist, hieß es weiter,<br />

»durchschnittlich auf 1 ½ Jahre anzusetzen.« Nur »Kinder mit Strukturfehlern<br />

seelischer und geistiger Art, denen im Elternhaus und in<br />

der Schule nicht die auf ihren Zustand eingestellte Erziehung zuteil<br />

werden kann, verbleiben für Jahre ihrer Kindheit im Heim.« 268 Für<br />

diese, die »schwererziehbaren Kinder« wurde ein »völliger Mangel<br />

der Erziehungsfunktion« konstatiert, weshalb »eigentlich das<br />

Grundübel zu verbessern wäre.« 269<br />

Für die Änderung gab es handfeste Gründe. Angesichts personeller<br />

Schwierigkeiten in den Heimen hatte sich das reine Familienprinzip<br />

ad absurdum geführt. Die »Überbeanspruchung der<br />

Kräfte und ihre geringe Freizeit« führten zu häufigem Personalwechsel.<br />

270 Die »Tatsache, daß 33% der Mitarbeiterinnen ihren<br />

Arbeitsplatz wechseln, ist eine Katastrophe«, seufzte die Heimverwaltung.<br />

271 Folgen der Personalnot waren eine als zu gering<br />

erachtete Kapazitätsnutzung der Heime – sie lag 1953 bei 80<br />

Prozent – und die damit verbundenen Kostensteigerungen.<br />

Diese wogen auch deshalb schwer, weil diverse Heime außerhalb<br />

Bremens sehr viel billiger waren, was dazu führte, dass<br />

manche selbst- oder zuzahlende Eltern ihr Kind lieber in einem<br />

solchen als in einem städtischen KWH untergebracht haben<br />

wollten. 272 Abzuwägen waren die Heimkosten außerdem mit<br />

den viel niedrigeren Kosten in Pflegefamilien. Hinzu kam, dass<br />

die Bremer Heime nur unzureichend für eine längerfristige<br />

Unterbringung ausgestattet waren, weil es – vom Fichtenhof<br />

und dem KWH Schönebeck abgesehen – keine eigenen Heimschulen<br />

gab, die andererseits aber als wesentliches Element einer<br />

›guten‹ Betreuung angesehen wurden:<br />

»Bevorzugt werden Heime mit einer Heimschule, einmal für<br />

die schulschwierigen Kinder, aber vor allem, um sicher zu<br />

stellen, daß der schulische Unterricht im Rahmen der<br />

pädagogischen Behandlung der schwererziehbaren Kinder<br />

eine einheitliche und aufeinander abgestimmte Maßnahme<br />

darstellt«. 273<br />

Pädagogisch zog man eher klägliche Konsequenzen aus dem<br />

neuen Konzept. Zur Förderung der Elternarbeit, eigentliche ein<br />

Kernstück zur Restabilisierung der Herkunftsfamilien, wurde<br />

lediglich eine – im KWH Marcusallee angesiedelte – Heimfürsorgestelle<br />

eingerichtet. 274 Auch das eigentliche Heimpersonal<br />

profitierte nicht von dem anspruchsvolleren Konzept. Der Personalschlüssel<br />

blieb noch bis 1959 konstant und über eine<br />

unzureichende formale Qualifikation wurde noch bis in die<br />

1960er Jahre hinein geklagt.<br />

Das Bremerhavener Kinderheim Hohewurth, schon Anfang<br />

1950 vom Bremer Landesjugendamt einer Generalkritik unterzogen,<br />

blieb in den 1950er Jahren in der Schusslinie der Behörden<br />

und mit ihm das Bremerhavener Jugendamt, weil es keine<br />

Abhilfe schuf. 275 Eine 1953 veranlasste Begutachtung durch das<br />

städtische Gesundheitsamt brachte Vernichtendes zutage. Die<br />

Behauptung des Jugendamtes, dass »schwererziehbare Kinder<br />

und Kinder mit krankhaften Anlagen nicht aufgenommen würden«,<br />

sei aus eigener Kenntnis einiger Kinder falsch. Zudem<br />

erhielt die Heimschule das Etikett, »eine als Heimschule deklarierte<br />

Veranda« zu sein. Außerdem bemängelt die Kritik das<br />

unzureichende und unausgebildete Personal. Mehr als drastische<br />

Worte nutzte das Gesundheitsamt für die Beschreibung<br />

der hygienischen Verhältnisse im Heim und auf dem Heimgelände.<br />

Dazu zählten ein »mit Kothaufen verunziert bezw. verstopft<br />

hölzerner Sitzabort im Freigelände des Heims«, gefährliche<br />

Jauchelachen auf den Nachbargrundstücken sowie ein zum<br />

Baden genutzter, aber verseuchter See auf dem Heimgelände.<br />

276<br />

Tatsächlich schreckte das Jugendamt auf. Nach diversen Renovierungen<br />

und einer Teil-Neumöblierung der Kinderzimmer<br />

berichtet das sechs Monate später erneut eingeschaltete<br />

Gesundheitsamt immerhin von einem jetzt »recht günstigen«<br />

Gesamteindruck. 277 Es blieben aber Mängel sowohl hygienischer,<br />

räumlicher und personeller Art, die nicht ohne Weiteres<br />

behoben werden konnten. Dabei handelte es sich um den verdreckten<br />

See und die Unterbringung der Kinder in viel zu kleinen<br />

Schlafräumen. 278 Auch das Personal lebte in Ein- bis- Dreibettzimmern<br />

nicht komfortabel. 279 Die Berichte zum Heim<br />

wurden bis zum Ende des Jahrzehnts freundlicher. Gelobt wurden<br />

die nach 1957 eingerichteten orthopädische Turnstunden<br />

für die Kleinen, der Besuch des Hallenbads für die Älteren, die<br />

von der Jugendleiterin überwachten Turn- und Sportspiele im<br />

Parkgelände, sowie ein in der Zusammensetzung abwechslungsreicher<br />

Speisezettel. Unerfreulich, aber nicht zu verhindern,<br />

blieb die auffallende Blässe vieler Kinder. 280<br />

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