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Geprügelt wurde auch, mit einem Rohrstock, von den Erziehern,<br />

wenngleich sie »auf ihre Weise um Gerechtigkeit bemüht<br />

waren, und es meistens einen konkreten Anlass für die Prügel<br />

gab.« Als eine andere Strafmaßnahme musste das Lesebuch in<br />

Schönschrift abgeschrieben werden. Fand sich ein Fehler, dann<br />

noch einmal. In schrecklicher Erinnerung<br />

blieb ihm der Essenszwang: »Ich mochte<br />

keinen Karamell-Pudding, wurde aber dazu<br />

gezwungen, sogar Erbrochenes wurde mir<br />

mehrfach wieder reingelöffelt. Schlimm war<br />

auch, dass der Heimleiter seine Andachten<br />

immer dazu nutzte, Jemandem persönlich die<br />

Leviten zu lesen. ›Die Hand, die einen füttert,<br />

soll man nicht wegstoßen‹, predigte er einmal und guckte mich<br />

dabei scharf an. Zu uns allen sprach er: ›Eure Aufgabe im Leben ist<br />

es, in Demut zu dienen: Wer das nicht tut, versündigt sich.‹ Letztlich<br />

prallte das alles natürlich an uns ab, zumal Worte und Taten<br />

einfach nicht zusammen passten. Später im Konfirmandenunterricht<br />

hab ich dann aber einen guten Pastor gehabt, der mit uns<br />

diskutierte.«<br />

Die Schüler besuchten eine Außenschule. Wer morgens den<br />

Schulbus verpasste, musste die sechs Kilometer zu Fuß laufen.<br />

»In meiner ersten Schule wurde noch geprügelt, als ich 1972 die<br />

Schule wechselte, war es dann anders. Da gab es auch Lehrer, die<br />

mich als das nahmen, was ich ja war, ein armes Würstchen. Von<br />

ihnen lernte ich auch, mir im Heim nicht mehr alles gefallen zu lassen.«<br />

Nach dem Schulunterricht hatten die Kinder im Sommer<br />

bei der Ernte in den verpachteten Ländereien zu helfen. Der<br />

Lohn ging in Naturalien an das Heim. »Ich konnte schon als<br />

Zehnjähriger die Sense bedienen. Die Arbeit war anstrengend,<br />

zumal sie oft unter Hetze verrichtet werden musste.«<br />

Essenszwang:<br />

»Sogar Erbrochenes<br />

wurde mir mehrfach<br />

wieder reingelöffelt.«<br />

zu meinen Großeltern nach Bremen und dann musste ich auch<br />

immer einmal ins Amt. Wenn ich denen erzählt hab, wie es im<br />

Heim tatsächlich zuging, war nichts wie Misstrauen in ihren<br />

Augen. Sie haben mir kein Wort geglaubt. Als ich dann später<br />

meine Akte gelesen hatte, wusste ich auch warum. In den Heimberichten<br />

stand immer, jedes Jahr mit den gleichen<br />

Worten nur belangloses Zeug: Der<br />

Junge entwickelt sich zufriedenstellend oder<br />

so was. Nichts von meinen Problemen und<br />

nichts von deren Problemen mit mir.«<br />

In der Heimhierarchie war der Junge inzwischen<br />

längst aufgestiegen. »Den älteren<br />

Jugendlichen konnte ich mich erkenntlich zeigen. Als einer der<br />

wenigen Nicht-Bettnässer im Heim hab ich ihnen ab und an mal<br />

mein Bett für sexuelle Kontakte mit den Heimmädchen zur Verfügung<br />

gestellt. Mich hat man im Übrigen mal beim Onanieren<br />

erwischt. Die Erzieher zeigten den Anderen im Schlafraum feixend<br />

mein ›beferkeltes‹ Betttuch.«<br />

Um diese Zeit beschloss das Jugendamt einen Versuch mit der<br />

Inpflegegabe des Jungen in eine Bremer Großpflegestelle. »Da<br />

drehte sich aber alles nur ums Geld. Außerdem hatte ich ja meine<br />

Freunde im Heim und auch über einen Fußballverein neue Freunde<br />

gefunden. Nach drei Wochen ging es entsprechend zurück ins<br />

Heim.« Im Heim war man nicht begierig darauf, mich zurück zu<br />

bekommen: »zu aufsässig«. Der Jugendliche blieb aber noch bis<br />

zur Schulentlassung aus der Hauptschule. Auf Wunsch des<br />

Großvaters, seine Mutter hatte er in den ganzen fünf Jahren nur<br />

ein einziges Mal gesehen, kam er zurück nach Bremen. Dort<br />

brachte ihn das Jugendamt im Jungenwohnheim Dobbheide<br />

unter.<br />

Schon als Zehnjähriger begann der Junge, ab und an wegzulaufen,<br />

meistens nicht länger als ein paar Stunden. Eine zweitägige<br />

Tour führte ihn einmal zu einem Onkel an die Grenze der DDR.<br />

»Den kannte ich eigentlich gar nicht, aber meine Mutter hatte mal<br />

von ihm erzählt. Natürlich konnten wir nichts miteinander anfangen;<br />

ich wurde dann auch gleich geschnappt und bekam dann im<br />

Heim die für Wegläufer vorgesehene saftige Strafe.« In seinem 14.<br />

Lebensjahr war sein Haupterzieher einmal für längere Zeit<br />

erkrankt. »Dass der Druck weg war, haben wir gleich ausgenutzt.<br />

In unserer Gruppe ging es drunter und drüber. Wir haben sogar ein<br />

paar Diebestouren gemacht. Ich hab in dieser Zeit auch Lehrer und<br />

Mitschüler ›abgezockt‹. Irgendwann hatte ich das aber nicht mehr<br />

nötig. Ich hatte gelernt, mir durch Kickern mein Taschengeld aufzubessern.«<br />

Zur Strafe für die Verfehlungen sollte er in die<br />

Jugendpsychiatrie eingewiesen werden. Er kam davon, weil der<br />

kranke Erzieher einen Bericht hätte schreiben müssen. »Später<br />

hab ich erfahren, dass sich auch der Sozialarbeiter im Jugendamt<br />

dagegen ausgesprochen hatte. Immerhin einer hat also mal was<br />

für mich getan.« Sonst aber gab es vor allem Enttäuschungen<br />

mit den Leuten vom Amt. »In den großen Ferien ging ich immer<br />

Im Jungenwohnheim Dobbheide<br />

»Da war dann alles anders. Ein richtiges Kontrastprogramm. Nach<br />

fünf Jahren nichts als Reglementierung und Vorschriften, galt hier<br />

jetzt die völlige Freiheit. Man bekam ein gutes Taschengeld, sogar<br />

132 DM Bekleidungsgeld und von den Erziehern vor allem den Ratschlag:<br />

›Na, dann entwickel Dich mal schön.‹ Das machte dann<br />

jeder so, wie er eben Freiheit verstand.<br />

In Dobbheide gab es gute Kumpel, aber auch ziemlich heftige<br />

Jugendliche. Brutalität, Drogen und Alkohol spielten eine ziemlich<br />

große Rolle. Die Grenzen der Liberalität hab ich auch bald erlebt.<br />

Ein ›anarchistischer‹ Erzieher mit Kontakten zur Studentenbewegung<br />

wurde schnell entlassen, als er uns zu Demos mitnahm. Für<br />

die Entwicklung meines politischen Bewusstseins hatte er aber eine<br />

große Bedeutung. Außerdem entwickelte ich mich wohl anders, als<br />

man es sich mit freier Entfaltung vorstellte. Es klappte einfach nicht<br />

mit meiner beruflichen Integration. Ich kam mit meinen Chefs,<br />

den Ausbildern und Kollegen, einige Alkoholiker, andere Kokain-<br />

Nutzer, nie zurecht.«<br />

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