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Der Hygieniker und Ernährungswissenschaftler Werner Kollath

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Verbrechen an psychisch Kranken <strong>und</strong> Behinderten im Nationalsozialismus 237<br />

stumpf dahin. Ist lediglich Objekt der Pflege“ kam einem Todesurteil gleich. Wie<br />

wichtig die Arbeitsfähigkeit als Kriterium für die Beurteilung eines psychisch kranken<br />

Menschen während der Zeit des Nationalsozialismus geworden war, beweist<br />

allein der Umstand, dass die Einträge in die Krankenakten von hospitalisierten Patienten<br />

beinahe ausschließlich unter diesem Aspekt getätigt wurden. Hinzu kam die<br />

Bewertung des Verhaltens. Unruhe, Erregungszustände, Wutausbrüche, aggressives<br />

Verhalten wurden als störend empf<strong>und</strong>en <strong>und</strong> konnten dazu führen, dass selbst als<br />

produktiv eingeschätzte Patienten selektiert wurden, zumal dann, wenn ihr Verhalten<br />

ihre „Produktivität“ einschränkte. Die 39-jährige Alma V. aus dem Kreis Waren<br />

galt als sehr fleißig, sie bohnerte, fegte <strong>und</strong> putzte Schuhe. Während ihrer abrupt<br />

auftretenden Erregungszustände zerschlug sie jedoch Scheiben, war unzugänglich,<br />

aggressiv <strong>und</strong> zu keiner Arbeit zu bewegen. Die letzten Einträge in ihrer Krankenakte,<br />

bevor sie am 11. Juli 1941 in die Tötungsanstalt Bernburg verlegt wurde, lauten<br />

allesamt „arbeitet fleißig“. 27<br />

Spuren eines Lebens<br />

Was aber bleibt von einem Menschenleben, dessen existenzielle Spuren sich lediglich<br />

in einer, meist nicht sonderlich umfangreichen Krankenakte erhalten haben? Die<br />

Antwort ist nahe liegend. Es bleibt sehr wenig <strong>und</strong> dieses Wenige unterliegt zudem<br />

der zweckorientierten Anlage eines solchen Dokuments, d. h. in erster Linie dem<br />

Festhalten von medizinischen <strong>und</strong> administrativen Informationen <strong>und</strong> selten persönlichen.<br />

Erschwerend kommt hinzu, dass die Sprache des Dritten Reiches nicht nur,<br />

wie Victor Klemperer eindrucksvoll dargestellt hat, eine veränderte war; 28 nein: man<br />

brauchte kaum noch eine Sprache für die „Minderwertigen“ <strong>und</strong> „Unnützen“. Die<br />

immer seltener werdenden Einträge in den Krankenakten erschöpften sich in wenigen<br />

Worten über deren Nutzen. Die vorletzten Einträge in den Akten der Opfer der<br />

„Aktion T4“ lauten dementsprechend: „teilweise erregt, drohende Haltung, muss<br />

dann im Bett gehalten werden, sonst hilft sie aber aus bei der Gartenarbeit“ (Frieda<br />

S., geb. 27. April 1887), „unverständlich, sprunghaft, aggressiv, zu keiner geregelten<br />

Beschäftigung zu bewegen“ (Erich G., geb. 24. Juni 1884), „nur tageweise ruhig,<br />

dann zu beschäftigen, sonst erregt“ (Margarete T., geb. 25. Dezember 1910), „Steht<br />

mit blödem Lächeln herum, zu nichts nütze“ (Viktoria G., geb. 19. Juni 1918). 29 <strong>Der</strong><br />

darauf folgende letzte Eintrag „ungeheilt entlassen“ bzw. „in eine andere Anstalt<br />

verlegt“ steht synonym für den Transport in die Tötungsanstalt Bernburg.<br />

Ein ähnliches Bild vermitteln die Krankenakten derjenigen, die der „Wilden Euthanasie“<br />

zum Opfer gefallen sind. Nach Einträgen über die (Un)Produktivität der<br />

Patienten folgt zumeist die Feststellung des Todes <strong>und</strong> dessen Ursache. Die meisten<br />

der Patienten, die von Rostock nach Uchtspringe verlegt worden waren, starben innerhalb<br />

weniger Monate. In den Krankenakten der beiden, am 5. November 1942 in<br />

27 Alle Angaben BA, R179.<br />

28 Victor Klemperer, LTI – Notizbuch eines Philologen. Leipzig 1975.<br />

29 Alle Angaben BA, R179.

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