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Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy

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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 102 of 178<br />

November. - Das Amerikanum schicke ich erst zurück, wenn ichs nochmal gelesen habe, schreibe dir<br />

auch vielleicht nochmal darüber. Bist du dir wohl eigentlich selber klar gewesen über dein<br />

Überlaufen von der Natur zum Geist? War etwa die Annahme des Pichtschen Kreuzbegriffs mit<br />

schuld daran? fast möchte ichs glauben.<br />

Dein Franz.<br />

27.8.18<br />

Liebe Überraschung, denn du hast es wirklich fertiggebracht, mich beinahe eine Woche lang<br />

warten zu lassen und erwarten, und dann noch überraschend zu kommen; denn ganz gegen die<br />

Ordnung kam gestern Abend schon Post: Hans, Trudchen und du. Vom Schah von Persien als er in<br />

den 80er Jahren seine sensationelle Europareise machte wird erzählt, ihm habe an der europäischen<br />

Musik am besten das allgemeine Durcheinander vorher, also das Stimmen gefallen. Dazu bin ich<br />

"nicht Asiat genug", aber dennoch wenn ich lange keine Kammermusik gehört habe, müsste ich<br />

vielleicht auch schon beim Stimmen an mich halten, nicht über den Quinten wegzufliessen, obwohl<br />

sie doch (zugegeben!) "leer" sind. Weiss ich doch dass sie sich füllen werden, dass die Terz hinzu<br />

kommen wird und nachher geht es ans cis-moll op 131 oder in der lydischen Tonart - liebes - liebes<br />

<strong>Gritli</strong> -<br />

Gestern schrieb ich grad noch an <strong>Eugen</strong> an seine Feldadresse, weil er die so ausdrücklich auf<br />

das Sonne Mond u. Sterne = Couvert geschrieben hatte. Nun hätte ich ruhig bei meinem Instinkt<br />

bleiben können, mit dem ich ihm sonst alles auch über den "15ten" hinaus an deine Adresse<br />

geschickt habe. Kassel wäre schön. Mindestens zu Anfang würdet ihr bei Mutter wohnen; nachher<br />

werdet ihr ja Haushalt führen wollen und in der Nähe der Kaserne sein. Wie Mutter jetzt ist, weisst<br />

du ja, du hast es ja noch am letzten Tag zu spüren gekriegt (sie hat mir am andern Tag davon erzählt<br />

und ich habe mir meinen Vers daraus gemacht). Sie braucht jetzt auch das Äusserliche, in ihrer<br />

grossen Hülflosigkeit und in ihrem völligen Mangel an Selbstvertrauen. Selbst Trudchen, die ihr in<br />

einer Ahnung von ihrem traurigen Zustand grade in den letzten Leipziger Tagen ein paar Mal<br />

schrieb, genau was sie brauchte, - selbst Trudchen war jetzt entsetzt von diesem Mangel an Zu= und<br />

Vertrauen. Freilich weiss sie auch nichts von dem Schluss mit Frau Gronau, Mutter hat offenbar ihr<br />

nichts davon erzählt!<br />

Ich wäre nicht zufrieden wie du, wenn es wahr wäre, dass <strong>Eugen</strong> den Juni vergessen hätte. Ich<br />

vertrage es überhaupt nicht dass jemand vergisst. (Kennst du die Anekdote - Bismarck selbst erzählt<br />

sie in den "G.u.E.": wie er mit dem alten Wrangel verzürnt war und der nach Jahren einmal auf<br />

einem Hoffest auf ihn zutrat und ihn fragt, ob er denn gar nicht vergessen und vergeben<br />

könne:"Vergessen - nein, vergeben - ja" und damit war es gut). Ich glaube auch nicht dass er<br />

vergessen hat. Die Lethe dieser 14 Tage gönnte ich ihm, aber auf die Dauer ist Lethe kein<br />

Nahrungsmittel. Der Mensch lebt nicht vom Vergessen, sondern vom Erinnern (auch wenn es nicht<br />

"hold" ist). So wie es eine Plattheit und Unwahrheit ist, dass "nur der Irrtum" das Leben sei; sondern<br />

in die Dunkelheit leuchtet nicht der Irrtum, sondern die Hoffnung. Könnte er diesmal, wo er die<br />

äusserste Grenze erreicht hat, jenseits von der die Nacht beginnt - könnte er auch dies vergessen, so<br />

wäre eine Wiederholung möglich. Und die ist unmöglich - denn die Seelen sind nicht mehr biegsam

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