Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 104 of 178<br />
Ich bin heut von spätem Zubettgehen (Bierabend!) müde und ohnehin auch grade an einem<br />
Stein auf dem Wege der "Einleitung", über den ich heute also sicher nicht wegkomme.<br />
Glaubt <strong>Eugen</strong> wohl an den Hass der Franzosen gegen die Amerikaner (früher mussten es die<br />
Engländer sein) von dem Schweizer erzählt? Aber der Hass der Bundesgenossen untereinander<br />
übersteigt ja überall, auch bei uns, den gegen den Feind - einfach weil man die Bundesgenossen auf<br />
die Nähe hat und zum rechten Hass gehört Nähe wie zur Liebe, nein mehr als zur Liebe.<br />
Ich muss dir noch zwei herrliche Sachen aus dem Heft des "Juden", das ich heut kriegte,<br />
schreiben. Eines erzählt von einer Hamletaufführung in einem jüdischen Theater in Whitechapel,<br />
dem Londoner Judenviertel. "Und wenn sonst in das Dunkel halbgelebten Lebens die Wirklichkeit<br />
Fortinbras mit hellen Fanfarentönen hineindringt - hier wird er wie eine lästige Person verstanden.<br />
Das Theater wurde unruhig bei diesen Versen. So sehr die Menschen des Ghettos über Ophelias<br />
Wahnsinn weinten, so sehr sie mit einem gewissen Ernst die groteske Gebärde des Polonius<br />
aufnahmen (denn sie wissen selbst, was es heisst, sich lächerlich machen) so sehr versagte ihr Sinn<br />
beim Tatmenschen Fortinbras. Jemand sagte neben mir vernehmlich:"Goj". - (Das Grossartige an<br />
dieser Markierung des einen Fortinbras als Heiden ist dies, dass der vernehmliche Sprecher offenbar<br />
alle andern Personen als Juden empfand!). Nun aber das andre: eine von Buber aufgezeichnete<br />
chassidische Geschichte: "Unsre Weisen sprachen: "Wisse was oberhalb von dir ist". Das deutete der<br />
Apter (die Rebbes heissen nach ihren Orten: der Rischiner, der Serer u.s.w.) also: Wisse was<br />
"oberhalb",ist von dir. Und was ist dies, was oberhalb ist? Ezechiel sagt es: "Und auf der Gestalt des<br />
Trones eine Gestalt anzusehen wie ein Mensch darauf oberhalb". Wie kann das von Gott gesagt<br />
werden? Heisst es doch: {Jesaja} "Wem wollt ihr mich vergleichen, dass ich gliche, spricht der<br />
Heilige". Und ebenda: "Welche Gestalt wollt ihr mir vergleichen?" Aber es ist so, dass die Gestalt,<br />
anzusehen wie ein Mensch, von uns ist. Es ist die Gestalt, die wir mit dem Dienste unsres wahrhaften<br />
Herzens bilden. Damit schaffen wir unserm Schöpfer, dem Bild= und Gleichnislosen, ihm selber,<br />
gesegnet sei er und gesegnet sei sein Name, eine menschliche Gestalt. Wenn einer Barmherzigkeit<br />
und Liebe erweist, bildet er an Gottes rechter Hand. Und wenn einer den göttlichen Krieg kämpft<br />
und das Übel verdrängt, bildet er an Gottes linker Hand. Der oberhalb auf dem Trone ist, - von dir ist<br />
er." - Diese Geschichte ist <strong>Eugen</strong> unzugänglich (die erste nicht), weil er die Kluft nicht spüren darf,<br />
die in ihr geschlossen wird, das "Wie kann das von Gott gesagt werden". Nicht spüren darf, nicht<br />
eben bloss nicht spürt. Du spürst sie ja von Haus aus auch nicht, aber du kannst sie nachspüren, ohne<br />
dich zu verlieren. Erzähle die Geschichte ihm lieber also nicht. Schrieb ich dir: ein Brief von mir<br />
läuft über seine Feldadresse an ihn, über Sonne Mond und Sterne, aber nichts Besonderes. - Wird er<br />
wohl diesmal Trudchen kennen lernen? ich wünschte es sehr. Aber ihr seid vielleicht, oder fast<br />
sicher, jetzt nur ein paar Tage in Kassel und erst vom Oktober an auf länger. Früher als Ende<br />
Oktober kriege ich ja auch im günstigsten Fall keinen Urlaub. So dass es also, wenn alles gut geht,<br />
das Zusammensein zu dreien diesmal wirklich giebt. Grüss ihn, und selber ------<br />
29.VIII.[18]<br />
ich bin dein.<br />
Liebes <strong>Gritli</strong> - auf diesem Papier sieht meine selbstfabrizierte Tinte ja gradezu mondän aus! Ich