Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 176 of 178<br />
beinahe keine Sehnsucht nach dir, so sehr sehe ich dich, und was geht über das Sehen!<br />
Mit Beckerath ist es weiter gut. Übermorgen abend kommt Rudi auf eine Nacht, um nach Leipzig<br />
zu fahren. Über den Predigtamtskandidaten habe ich mich gefreut oder vielmehr über den Gott der<br />
Juden, der ihn zur Strafe für sein Schimpfen gleich das Vaterunser vergessen liess.<br />
Wir machen jetzt viel Musik; gestern Abend war Hanna da. Hans war wohl alle Tage da. Aber er<br />
ist Beckerath etwas unheimlich. Aber nun ein Kuriosum: Mutter hat Hedis Brief bei Ehrenbergs<br />
vorgelesen, und heut Nachmittag rückt Putzi an mit einem Brief an Hedi, und gar nicht übel,<br />
wenigstens die ersten Seiten. Hans schreibt ihr auch; kurzum wenn sie, wie ich vermute, nur etwas<br />
Unterhaltung auf ihrem Krankenbett haben will, so hat sie welche. Allerdings Rudis Brief wird sie<br />
als eine Ohrfeige empfinden, eine etwas sonderbare Wirkung für ein Gebet.<br />
Ich denke, die Aussicht mit Beckerath zusammenzufahren, wird Rudi noch einen Tag hierhalten.<br />
Ich bin schon froh, dass Beckerath zu Sylvester hier bleibt und Mutter über den Abend weghilft.<br />
Mutter mag ihn ja sehr, empfindet ihn auch ein klein bischen als Bundesgenossen; er hat auch über<br />
Hedis Brief eigentlich sehr freundlich geurteilt, während Rudi ihn nur "unglaublich" fand und<br />
schrieb: sie gründe von ihrem Krankenlager ihre deutsche Republik und wir seien "am dransten".<br />
Aber ich erzähle dir mehr davon als es wert ist. Quisque patimur suos manes - jeder hat seine eignen<br />
Pazifisten in der Familie, ihr ja auch; es ist ein wilde Sekte.<br />
Es ist mir so egal, was ich dir schreibe. Es ist doch beinahe nur, als ob ich bei dir sässe oder du<br />
bei mir - ich sehe doch immer nur deine Augen. Das Bild ist mir lieber als neue Bilder; auf den<br />
ersten Blick bist du es ja gar nicht, aber dann guckt man hinein und plötzlich fängst du an, daraus zu<br />
sprechen, gar nicht wie aus einem Bild, sondern ganz leibhaftig; das kann bei einem neuen Bild nie<br />
sein; da sieht man alles gleich beim ersten Blick und deshalb tut es seinen Mund dann überhaupt<br />
nicht erst noch auf, es fühlt sich schon gleich so durch und durch gesehen.<br />
Liebes <strong>Gritli</strong>, sprich und sieh und<br />
- hab mich lieb<br />
Dein Franz.<br />
29.XII.[18]<br />
Liebes <strong>Gritli</strong>, es wird ein schönes Stück, und während ich es schreibe, geht es mir genau wie ich<br />
es dir vorhersagte: ich begreife gar nicht, wie ich III 2 schreiben können werde. Umgekehrt wird es<br />
mir freilich bei III 2 nicht gehen; das ist nun schon dadurch sicher, dass ich als Eckzitate dafür die<br />
Maimonidesstelle von den "Wegen" nehmen werde, die ich dir zeigte, und vielleicht auch die<br />
Kusaristelle, die ich dir auch zeigen wollte (vom Samen - Baum - und Frucht). An die Liturgie<br />
komme ich erst morgen. Bisher ein langes Stück über das Volk und über Völker überhaupt (Land,<br />
Sprache, Sitte, Gesetz) und ein kürzeres, das erst morgen vor dem Frühstück fertig wird über Gott<br />
Welt Mensch je auf jüdisch. III 2 wird natürlich genaue Parallele dazu, nur natürlich nicht über Volk<br />
u.s.w., sondern über die und über überhaupt (oder über die Contio der Missa