Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 145 of 178<br />
verspüre ich wieder die Schauer, die man vor dem verschleierten Bild spürt; denn da muss ich ganz<br />
verstehen was ich eigentlich denn gemacht habe. So werde ich nach Kursschluss Urlaub beantragen -<br />
falls bis dahin noch ein geregeltes Militär besteht mit Dienststempeln u.s.w., woran ich ja etwas<br />
zweifle. Heut ist ja <strong>Eugen</strong>s 2.XI; vielleicht hat Wilhelm heute wirklich die Abdankung<br />
unterschrieben. Kähler sagt, einem Badener oder Cumberländer oder dergl. (ich glaube nämlich, der<br />
Cumberländer wird kommen) würde er nicht den Fahneneid leisten, dann schon eher einer Republik.<br />
- Mutter habe ich heute geschrieben, sie möchte ein paar Tage herkommen; ein Brief von ihr, den ich<br />
eben bekam, zeigt dass es richtig war. Wäre nicht alles so unsicher, so wäre es vielleicht das Beste<br />
ich behielte sie hier unten irgendwo im Schwarzwald, wo ich sie Sonntags besuchen könnte, in<br />
einem Sanatorium auf einige Wochen. Die Ernährungsverhältnisse hier sind ja gradezu glänzend.<br />
Weisst du zufällig ein Sanatorium? Freiburg selbst ginge natürlich nicht, weil ich dann alle meine<br />
freie Zeit bei ihr sein müsste und das möchte ich keinesfalls. Sie wird selbst gar nichts dagegen<br />
haben, sich etwas zu pflegen. Schliesslich ist es hier unten ja auch kaum viel unsicherer als in<br />
Kassel, die Grenze ist in Deutschland plötzlich überall sehr nah; es ist wieder wie 1914, "als eng die<br />
Grenze uns umwand" wie Trudchen schrieb. Aber anders als 1914 sind die inneren Kräfte<br />
verbraucht. Ich musste in diesen Tagen daran denken (und merkwürdigerweise Kähler auch), dass<br />
Lettow = Vorbeck sich nun vielleicht länger schlagen würde als das Deutsche Reich. Das grande<br />
latrocinium Staat ist trotz seiner Grandität, und durch sie, hinfälliger gebaut als das kleine<br />
latrocinium einer echten Freischar. Der Staat ist eben doch ein Abstraktum, der sich die wirklichen<br />
Menschen erst untertan machen muss, um Blut und Leben zu kriegen. Eine Bande aber besteht aus<br />
den wirklichen Menschen unmittelbar.<br />
Ich bat Herrn Mündel, die Einleitung II an <strong>Eugen</strong> zu schicken; hoffentlich hat ers getan. Sie ist<br />
wohl wirklich im ganzen sehr gut geworden; der Gedanke kam mir jetzt schon wie eine Trivialität<br />
vor und doch möchte ich darauf schwören, dass ihn noch niemand gehabt hat.<br />
Es ist spät und unwillkürlich ist die Feder bis zum Ende des Bogens gelaufen. Eigentlich hatte<br />
ich ihn nur genommen, um dir die ersten Worte zu schreiben. Es sind auch die letzten. Geliebtes<br />
Herz<br />
Dein.<br />
8.11.18 - am Münsterplatz!<br />
[Freiburg]<br />
Liebes <strong>Gritli</strong>, endlich. Vier Tage lang schrieb ich dir nicht und von dir kam Brief auf Brief und<br />
ich liess mirs wohl sein. Du kennst deine Konkurrenten, den +++ Dienst und den Stern (müsste wohl<br />
heissen "*** Stern"). Der Stern ist freilich jetzt in einem Teil wo alles Schreiben daran Schreiben an<br />
dich ist; du siehst mir immerfort über die Schulter. Ich bin wieder ganz drin, nur freilich geht es<br />
langsamer weiter, weil ich nur begrenzte Zeiten dafür habe. Aber seit gestern ist ja nun der Dienst<br />
1.)"angenehm" und 2.)vor allem wenig geworden; gewöhnlich vormittags von 1/2 9 bis 1/4 12 und<br />
Nachmittag 1 oder 2 Stunden. Vor dem Krieg ist er ja nun gerettet; nun muss ich hoffen, dass ich ihn<br />
auch durch die Revolution durchtrage, die ja unzweifelhaft in den nächsten Monaten kommt. Mir ist