Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 83 of 178<br />
Lieber <strong>Eugen</strong>,<br />
tant mieux! -------<br />
24.VII.18<br />
nämlich wenn es wirklich offene Türen waren. Aber du müsstest freilich wissen, dass sie immer<br />
angelehnt waren, so dass man bisher von aussen wirklich nicht wissen konnte, ob sie offen waren<br />
oder nicht. Ich bin also zufrieden, dass ich sie nun wirklich einmal sperrangelweit aufgestossen habe<br />
(und bin neugierig, wie lange sie so stehen bleiben). Denn auf die Werke darfst du dich nicht<br />
berufen. Käme es darauf an, so wären wir alle schon von Prima her weltfertige lebenssatte Greise.<br />
Und vor allem: die Werke werden ja nicht gelesen. Wenigstens nicht von uns gegenseitig. Wir<br />
geraten, wenn wir uns sehen sollen, doch immer auf den bequemeren Weg: wir kucken uns an. Denn<br />
wir sind ja eben gleichzeitig. Das Geschriebene ist für die "Nachwelt", deren erste Generation in den<br />
"Schülern" schon heranrückt. Dass wir trotzdem immer wieder in die Versuchung kommen, für<br />
einander zu schreiben, das ist grade das dauernde Denkzeichen unsrer Schwäche, unsrer Noch =<br />
Unerwachsenheit. Wir können und brauchen es uns nicht gewaltsam zu verbieten. Denn es verbietet<br />
sich uns schon von selber: indem wir immer mehr die Erfahrung machen, dass die "für" die wir zu<br />
schreiben meinten, uns nicht hören mögen. Und diese härteste Erfahrung nicht als einen Grund zum<br />
Verzweifeln, sondern als ein Symptom der Genesung (denn jeder natürliche Übergang geschieht ja in<br />
der Form einer Krankheit und Genesung) zu nehmen, das ist die Summe meiner "Lebensweisheit für<br />
Dreissigjährige". Das Reprobari seitens der "Mitschüler" das notwendige Ergänzungsstück zu dem<br />
Recipi seitens der "Schüler". Ich glaube, etwas andres hat in meinem nur teilweise verständlichen<br />
Brief nicht gestanden. Jedenfalls war es das, was ich selber daraus gelernt habe.<br />
Nur teilweise verständlich? Du hast mir noch nicht viele Briefe geschrieben, die ich verstanden<br />
hätte, ehe ich sie - beantwortet hatte. Ein Brief ist doch kein Buch. Ein Buch muss verstanden sein<br />
wenn man es zuklappt. Aber ein Brief schliesst nicht mit einem Punkt, sondern mit den Doppelpunkt<br />
des "Gieb Antwort". Und erst wenn man sich à corps perdu in diese Antwort hineinwirft, erst dann<br />
kann man sich bis zu dem Punkt vorarbeiten, wo auch der Brief den man beantworten wollte erst<br />
wirklich endet - nämlich eben am Ende der - Antwort.<br />
Du meinst, im Verlangen nach dem Recipiertwerden unterschieden wir uns? O nein, sicher<br />
nicht. Der "Turm" setzt da gar keinen Unterschied. Recipitur intra muros et extra. Wir unterscheiden<br />
uns da nicht im mindesten, wenn du nämlich wirklich einsiehst, dass dies Recipi um den Preis eines<br />
Reprobari gewährt wird und nicht anders. Siehst du das? ich weiss nicht recht. Das was du<br />
Tragikomödie nennst, dass du mit Haut und Haaren, nein: mit Leib und Seele recipiert zu werden<br />
verlangst, das ist wohl der Ausdruck dafür, dass du es noch nicht siehst. Du stellst noch "deine<br />
Bedingungen". Und verletzt damit das einzige Recht, das der Welt zusteht, und auf das sie<br />
infolgedessen eifersüchtig wacht: eben Bedingungen zu stellen. Mehr wie das tut sie ja nie; aber das<br />
will sie nun auch wirklich. Überleg dir mal, ob du ihr das zumuten kannst, diesen Verzicht. Ich<br />
spreche da etwas als Sachwalter - Jacobis. Darum genug davon. Ich muss noch etwas als Sachwalter<br />
meiner selbst sprechen.