Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 70 of 178<br />
Zensurstrichen an Mutter geschrieben, nachdem ich merkte, dass sie Angst bekam - in welcher<br />
Richtung, ahnte ich freilich nicht. Ich würde ihr wirklich gönnen, sie dürfte sich weiter um so etwas<br />
sorgen, aber in drei oder vier Wochen wird sie ihren Sorgen wieder einen ernsteren Gegnstand geben<br />
müssen. Eigentlich ist es komisch. Das Sorgenbedürfnis ist eben vorhanden, noch ehe es seine<br />
Gründe alle beisammen hat. - Über dich hat sie sich ehrlich aufgeregt; daraus sah ich, dass du sie<br />
etwas zur Vertrauten gemacht hattest; sie hat sogar an <strong>Eugen</strong> geschrieben - sie kann ja nichts<br />
schaden, aber peinlich ist es doch; ich habe ihre Mitteilung davon etwas ironisch quittiert; ich kenne<br />
ja die Formeln, mit denen sie sich "so etwas" plausibel macht, kenne sie nicht erst seit jetzt. Jetzt<br />
wird sie nach ihrer fargmentarischen Einsicht in das Geschehene fast überzeugt sein, "immer recht<br />
gehabt zu haben" und wenn sie mich sieht, auch dies Eingeständnis, dass sie recht gehabt hat, von<br />
mir verlangen. Oh weh! Ich werde diesmal versuchen, es gar nicht zu einer Diskussion dieses<br />
"Themas" kommen zu lassen. Es ist ja nur dumm.<br />
Das Kinderbild, das du mir mitten in jenen Tagen schicktest - weisst du, ich wäre dir wohl auch<br />
schon damals zugetan gewesen. Es ist sehr komisch: ich falle nämlich hoffnungslos bei kleinen<br />
Mädchen unter 6 Jahren auf die dicklichen - auch die kleine Esther aus dem Kindergarten (über die<br />
sich Mutter glaube ich besonders aufgeregt hatte) ist so ein untersetzter Pummel; ich hab sie auch<br />
diesmal am Sonntag wiedergesehn; später kann ich dann plötzlich das Dicke nicht mehr vertragen,<br />
wie es mir z.B. den Weg zu Käte, <strong>Eugen</strong>s Schwester, lange verlegt hat. Du hättest es mir so als Kind<br />
leicht gemacht - wie du es mir heut als Grosses leicht machst: dich lieb zu haben - in allen<br />
Wandlungen vom Gestern durchs Heute zum Morgen. Das Heute ist noch trüb und gespannt; es ist<br />
noch kein leichtes Atmen wieder; aber das Morgen ist uns wieder gewiss.<br />
Auf morgen denn!<br />
Dein Franz.<br />
19.VI.[18]<br />
Liebes <strong>Gritli</strong>, ein Wort nur - es geht uns ja gleich in diesen Tagen: wir haben beide die Sprache<br />
noch nicht wiedergefunden, getrauen uns noch nicht recht wieder zum Wort. Wie weich und<br />
aufgelöst es in mir aussieht, habe ich gestern Abend recht gespürt, als ich seit langem einmal wieder<br />
Musik hörte, allerlei durcheinander; alles wühlte in mir und ich lag wehrlos da. Auch heut<br />
Nachmittag wieder; ich nahm mir einfach Zeit, um endlich einmal wieder etwas zu lesen, und las<br />
Klatzkins wunderbaren, wenigstens in den unmittlebar von ihm handelnden Teilen wunderbaren<br />
Aufsatz über Cohen, im Aprilheft des Juden [gestr. Zu lesen]. Er ist der einzige ausser mir, der das<br />
Besondere des "letzten Cohen" erkannt hat, und er findet viel gewaltigere Worte als ich gefunden<br />
habe. Bisher hatte ich mich über alles von ihm geärgert, diesmal riss er mich um. So labil ist mein<br />
Gleichgewicht in diesen Tagen, und fast zaghaft höre ich meine eigne Stimme, die zu dir spricht - in<br />
gesunden Tagen hört man den Ton der eignen Stimme nie. Oh <strong>Gritli</strong> - wir wollen und werden wieder<br />
ganz gesund werden. Lass uns Geduld haben.<br />
Heut ist es ein Vierteljahr seit dem 19.März. Auch dies ist noch eine ganz frische Wunde; ich bin<br />
so weich, dass ich es Mutter gegenüber gar nicht sagen kann. Das Unsinnige dieses Todes nach