Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 139 of 178<br />
Dein.<br />
19.10.[18]<br />
Liebes <strong>Gritli</strong>, die ganzen Tage schrieb ich nicht; immer sah es aus, als ob wir fort kämen und<br />
dann wurde doch nichts daraus; und übrigens sass ich von früh bis abends und gebar meinen<br />
tanzenden *. Morgen früh wird wohl II 1 fertig, es fehlt nur noch die grammatische Analyse von I M<br />
1. Es ist wie ich dachte mehr als doppelt so lang geworden wie die Bücher des I. Teils; sodass ich<br />
jetzt mit ca 13 "Druckbogen" wohl die knappe Hälfte des Ganzen habe; ich habe immer noch den<br />
heftigen Drang nach dem Ende; es ist mir ganz egal, ob das einzelne ein bisschen besser oder<br />
schlechter ist. Ich will es geschrieben haben. Dass es dann da ist und wie es ist, ist mir gleichgültig:<br />
Ich denke ja an keine Leser; noch nicht einmal an mich selbst als Leser. Es ist mir nur lästig, das<br />
Geschriebene zum Abschreiben nochmal lesen zu müssen, während ich das sonst gern tat. Diesmal<br />
will ich nur vorwärts und durch. Selbst die demoralisierte Drückerei hier im Lazarett herum gestatte<br />
ich mir. Der * ist mir jetzt das Nächste, die nächste Aufgabe. Ich trage ihn jetzt täglich durch das<br />
Meer des deutschen Jammers und halte ihn so hoch dass er nicht nass wird. (Du darfst aber nicht<br />
glauben, dass er lesbar wird. Ich war ganz erstaunt wie du schriebst, er ginge dir mehr und mehr auf.<br />
Das Schöpfungsbuch ist genau so schwer wie die des I.Teils. Den Stern selbst werde ich<br />
wahrscheinlich nur im Übergang von II zu III ganz kurz dem "Leser" zur Selbstkonstruktion<br />
empfehlen, im übrigen einfach die Symbole ...[Zeichnung Dreieck Spitze oben, Dreieck Spitze<br />
unten, Stern] auf ein Blatt vor je den I.II.III.Teil malen. Im übrigen muss alles mit Worten zu sagen<br />
sein. (Aber die algebraischen Symbole habe ich fleissig in I, und boshafterweise auch zur Darstellung<br />
der idealistischen Philosophie in II 1 verwendet. Die Kunstlehre habe ich heut genau entworfen. In II<br />
1 kommt nur wenig davon herein, nicht aus sachlichen sondern nur aus darstellerischen Gründen.<br />
Hier, in dem Verhältnis von Kunst u. Sprache, Denken und Sprache, ist sehr vieles in nächster Nähe<br />
zu <strong>Eugen</strong> - und trotzdem wird er es kaum goutieren.) Alles tue ich dabei in einem wie verzauberten<br />
Zustand, in genauem Gefühl von dem Furchtbaren was geschieht und doch über dies Gefühl weg. Ich<br />
schreibe in die Jahrtausende hinein und krümme mich dabei unter den Geisselhieben des<br />
Jahrhunderts. Es ist alles wie du schreibst (ich habe deine Briefe vom 13. - gestern - , und vom 9. -<br />
heute -); das Ende von allem was uns selbstverständlich war. Ich speziell merke ja jetzt, wo es<br />
zerbricht, erst ganz, dass es mir noch mehr bedeutet hat als ich mir zugab. Es war doch eben einfach<br />
die Welt, der man vertraute, weil sie da war. Die Rätselhaftigkeit von Gottes Willen spürt man erst<br />
ganz in der Niederlage; im Sieg redet man sich ein, so müsste es sein. Und das Sonderbarste ist, wie<br />
sich das alles sammelt in dem Schmerz um die Hohenzollern. Das wusste ich nicht, dass ich so<br />
gefühlsmonarchisch bin. Es empört sich alles in mir gegen einen Präsident Scheidemann oder einen<br />
Kaiser Max. Ich weiss ja das deutsche Sündenregister genau, und brauche meiner alten Aufstellung<br />
keinen einzigen Posten hinzuzufügen, aber nun ist es härter gestraft als es (verdient? weiss ich nicht,<br />
aber als es:) tragen kann. Es ist nicht reif, nicht stark genug für eine solche Strafe, es wird ihr einfach<br />
innerlich erliegen und wirklich verwilsont werden. <strong>Eugen</strong> hat in ...[Zeichnung Sonne Mond Sterne]<br />
die amerikanische Gefahr gesehn, als ich sie noch nicht wirklich ernst nahm. - Es geht mir genau wie<br />
euch, ich habe nach der Dt.Tageszeitung verlangt. - Auf einen Wiener Kongress hoffe ich nicht; dann<br />
kämen wir noch mit dem nackten (Bismarckschen) Leben davon; es wird viel schlimmer. - Wir<br />
haben alle nicht gewusst, wie vergänglich alles Menschliche ist. Weil das Reich 43 Jahre stand,