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Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy

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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 120 of 178<br />

gehen und sie auch schuldig (vor sich selber) machen. Indem er ihnen sagte: der Krieg hört nicht auf,<br />

weil du, du da, noch - zu kriegslustig bist. Und das zu jedem gesagt. Wer hielte das aus? Wo die<br />

ganze Kriegsmoral darauf herauskommt, den andern zu beschuldigen, das andre Volk - es hat<br />

angefangen - , die Bundesgenossen - sie haben versagt - , den anderen Stand, das Land die Stadt, die<br />

Stadt das Land, jeder seinen Nachbar, immer den "andern". Nie "ich bins".<br />

Ich lege dir noch ein furchtbares Helveticum bei, das ich längst für <strong>Eugen</strong> zurückgelegt<br />

hatte. - Waldeck ist schön - du wirst sehen.<br />

Dein Franz.<br />

11.9.[18]<br />

Liebes <strong>Gritli</strong> - freilich nur Chiffre. Aber wie schön, dass es auch Chiffern giebt. Ich liebe die<br />

Chiffre mehr als das verwegenste Momentprodukt des Gefühls, weil alles drin steckt und nicht bloss<br />

der einzelne Augenblick; alle Augenblicke. Alles Zusammengreifen, darauf kommt es überhaupt an.<br />

Deshalb lösche ich auch nicht aus, was ich von andern über jemanden weiss. Alle Bilder, die von<br />

einem Menschen auf der Erde herumlaufen gehören zu ihm, und will ich ihn ganz, so ziehe ich alle<br />

diese Bilder, auch die Karrikaturen, auch die Pamphlete, selbst die Hassgesänge, in mein Bild von<br />

ihm hinein. Warum soll in der Liebe nicht auch ein Lachen, ein Mitleid, selbst ein Grauen mitklingen<br />

können. Ich will ja den Menschen ganz lieben, ganz wie er ist, ich liebe ja keinen Engel, ich liebe ja<br />

den Menschen, der "ist wie ich", der alles das Dunkle in seiner Seele hat, auch hat, was ich in meiner<br />

habe. Ich liebe eben nicht "das Lautere" (habe ich dir diese Geschichte aus Warschau mal erzählt?<br />

keine jüdische Geschichte). Ich möchte wohl, dass meine Liebe lauter wäre, aber das was ich liebe<br />

soll nicht lauter sein. Das war das Heidentum der Griechen dass sie glaubten, die Liebe müsse das<br />

Lautere zum Gegenstand haben um selber lauter sein zu können; deshalb haben Platon und<br />

Aristoteles nur dem Menschen und den Dingen Liebe zu Gott zuschreiben können, aber Gott keine<br />

Liebe zu den Menschen und zur Welt sondern nur zu sich selbst. Sie wussten nichts von Gottes<br />

"Demut". Aber wir wissen davon und sollen es genau so machen und wen wir lieben, mit Haut und<br />

Haaren lieben, in seiner Stärke und seiner Schwachheit, den Wohlverstandnen (d.h. so wie ers<br />

gemeint hat Verstandenen) wie den Missverstandnen (d.h. anders Verstandenen, als er verstanden<br />

werden wollte); auch das Missverstandenwerden gehört zum ganzen Menschen, und wie können wir<br />

mehr lieben als wenn wir auch das Missverständliche des andern mitlieben.<br />

Inzwischen wird wohl schon Kassler und Säckinger Post in Heidelberg zusammenfliessen und<br />

du bist für die lange Wartepause entschädigt. Und jetzt bist du ja schon in Wildungen. Geht doch<br />

auch mal zu dem Altarbild in der Kirche; es ist ein alter Westfale aus dem frühen 15.scl., als<br />

deutsches "Trecento" noch zart und still, ehe der grosse Rausch und die Krämpfe und<br />

Gewaltsamkeiten beginnen, die bis Grünewald führen und bei Dürer gebrochen und auch zerbrochen<br />

werden. Das Edertal habe ich dreimal gesehn, erst als Junge, noch als richtiges ahnungsloses<br />

Waldtal, nachher das verödete, wo die Sperrmauer schon stand und die Dorfreste in der Talsohle auf<br />

das Wassser warteten, und endlich wie der See zu 3/4 vollgelaufen war. Es war so eine Art Chidher<br />

= Erlebnis.

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