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Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy

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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 60 of 178<br />

hinter sich Tiefe. Man selber klettert, nicht als erster vielleicht; hie und da sind Griffe ins Gestein<br />

eingelassen - aber ob sie halten wenn ich greife? ein Seil ist um mich geschlungen, der Führer der es<br />

hält ist zuverlässig, aber ob das Seil hält? Aber: ascendere necesse est, vivere (selbst aeterne vivere)<br />

non.<br />

Dein Franz.<br />

23.V.[18]<br />

Liebes <strong>Gritli</strong>, ich habe einen Kater von meinem gestrigen Brief an dich; es ist zu ekelhaft das<br />

alles; ich hatte manchmal darum in den letzten Wochen Angst für dich, wenn du nach Kassel kämest.<br />

Nun geht vielleicht doch alles besser als ich fürchtete.<br />

Dein Wort, ob du deinem Herzen trauen kannst, hat mich noch weiter verfolgt, grade weil es<br />

von dir kam. Ich habe ja erst von dir, und zuvor von <strong>Eugen</strong>, dieses Vertrauen wieder gelernt. Ich bin<br />

freilich noch ein A=B=C = Schütze. Was soll ich tun, wenn die Lehrerin selbst unsicher wird?! Oder<br />

wird sie es gar nicht? ich sehe eben nochmal in deinen Brief hinein und merke, dass du selber schon<br />

die Lösung findest, in dem Spruch von dem neuen, dem fleischernen Herzen. Ja, ein Herz zu haben,<br />

dem man trauen kann, wäre das Grösste. Aber dies neue Herz gewinnt man nicht, indem man dem<br />

alten misstraut - eben das war mein früherer Irrtum - , sondern indem man ihm vertraut, auch solange<br />

es noch steinern ist. Nur unter dieser Sonne des Vertrauens und den Tränen des immer wieder<br />

getäuschten Vertrauens muss endlich einmal das steinerne zerschmelzen und das fleischerne zu<br />

schlagen anfangen. Unter dem starren grauen sonnen= wie regenlosen Himmel des Misstrauens<br />

bleibt Stein Stein.<br />

Liebes <strong>Gritli</strong> - -<br />

Es war mir sonderbar, dass du den Protestantismus grade deswegen nicht Frauensache findest,<br />

weil heute fast alle Frauen Einzelwesen sind. Du hast sicher recht. Sonderbar ist es nur, weil der<br />

Protestantismus den Männern doch grade als das Christentum der "Einzelwesen" gilt. Ich weiss mir<br />

das nicht zu reimen. Ob es mit der Abschaffung des Mariendienstes zusammenhängt? Das ist ja<br />

sicher der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Kirchen. Auch das ist ja ein Stück<br />

Sichtbarkeit der visibilis, dass hier die göttliche Frau und infolgedessen Christus der göttliche Mann<br />

ist (wozu dann das, was ich dir neulich aus dem Santo anführte, gut stimmt: dass die kath. Kirche<br />

den lebenden Christus hat, die protestantische den toten, den dogmatisierten). Ein Mann und eine<br />

Frau, die höchste Männlichkeit der Tat und des Leidens, die höchste Weiblichkeit des<br />

Mutterwerdens, und beides vergöttlicht durch die Befreiung von der Sklaverei des Geschlechts, in<br />

den beiden Paradoxen der jungfräulichen Mutter und der keuschen Geistigkeit. Diese volle<br />

Sichtbarkeit giebt dem weiblichen "Einzelwesen" einen greifbaren Gegenstand des Gefühls. Im<br />

Protestantismus, wo Christus "solus" und infolgedessen "kein Mensch" ist, sondern eigentlich eine<br />

"Idee", hat nur das Gefühl des männlichen "Einzelwesens", das ja von Haus aus auf "Ideen"<br />

einschnappt, unmittelbaren Zugang. Für die Frau gilt hier das berühmte Miltonsche He for God only,<br />

she for God in him - also genau wie du sagst: nur als Hausglied kann sie Protestantin sein. - So<br />

ungefähr. Sehr klar ausgedrückt ist es nicht. "Sei darum nicht böse"

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