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Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy

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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 15 of 178<br />

von deinem Protestantismus, am wenigsten von dem, den du gegen <strong>Eugen</strong> verfochten haben<br />

könntest. Allerdings dachte ich auch nicht, noch weniger, an einen eindeutigen Hang zum<br />

Katholischen und hatte den katholischen Kirchgang vom letzten Sonntag, den ich ja aus deinem<br />

Brief merkte, bloss für zufällig, nicht für selbstverständlich gehalten. Die "sichtbare"? Was ist denn<br />

sichtbar? die Stickereien, die Bilder. Aber das eigentlich Sichtbare, die Menschen, unter den<br />

Sticke-reien, vor den Bildern, die sind in Rom ebenso sichtbar = unsichtbar wie in Genf u.<br />

Wittenberg. Und die wahre Sichtbare wäre doch die, wo die Glieder des Leibes selber, also eben die<br />

Menschen, sichtbar wären und nicht die Gewänder, bei denen doch immer die Gefahr ist, dass es<br />

umgekehrt geht wie in dem Andersschen Märchen von des Königs neuen Kleidern. Ich trage die<br />

Sache mit mir herum, weniger für dich als für <strong>Eugen</strong>. Denn während es für Rudi gar nicht gefährlich<br />

wäre, wenn er katholisch würde, wäre es für <strong>Eugen</strong> ein Unglück. <strong>Eugen</strong>s Trieb zum jeweiligen<br />

Gegenteil, zur "andern Seite der Wippe" würde dadurch der Eckstein seines Lebens werden und<br />

während er bisher doch nur die Unruhe in seinem Uhrwerk war würde es dann eine schwere<br />

unverrückbare Last sein. Denn er ist eben doch Protestant, Ketzer oder wie du willst, und der<br />

Katholizismus, der Grossinquisitor ist ihm immer nur sein "Andres", sein Gegenüber. Es wäre<br />

schlimm, wenn er sich auf sein Andres festlegen wollte. Und eben du kannst ihm helfen, weil du das<br />

hast was er nicht hat: protestantischkirchliches Erbe: Du musst die Erbschaft nur wirklich antreten.<br />

Der Sonntag Vormittag tut es nicht, die katholischen Glocken brummen tiefer und die Glöcklein<br />

zittern heller, da kommt die Lutherkirche nicht gegen an. Das protestantische Erbe ist aufgespeichert<br />

zwischen Buchdeckeln. Lies die grossen Ketzer. Seit der Kirchentrennung hat die Una sancta keine<br />

Ketzer mehr. Vor Luther war sie ja "katholisch" und "protestantisch" in einem. Aber seitdem sind die<br />

Ketzer der Eigenbesitz der neuen Kirche geworden. Lies <strong>Eugen</strong>s Abscheu Kierkegard. Oder wer dir<br />

sonst zwischen die Finger kommt. Lies gar nicht, sondern denk bei denen, wo man sonst kaum daran<br />

denkt, dass sie Christen sind, denk bei Schiller Goethe und Consorten dass sie in der protestantischen<br />

Kirche und nur in ihr gross werden konnten. Denk dass der Heide an der katholischen Kirche zum<br />

Voltaire wird, in der protestantischen zum Goethe. Zur Protestantin kannst du dich auf Grund deines<br />

Erbes bilden; Kirche und Christentum ist eben immer wieder zweierlei; als Christin kannst du<br />

jenseits von beiden Kirchen wohnen, musst es sogar. Aber um <strong>Eugen</strong>s willen wachs ein in dein<br />

Eignes!<br />

- Liebes <strong>Gritli</strong> - nein ich habe nicht mehr geschrieben als ich durfte.<br />

Und du sagst noch etwas, aber ich weiss nicht ob ich recht darauf antworten kann. Die "Einheit<br />

im Raum", die der Ewigkeit für die Zeit entspricht, ist doch - das Himmelreich. Aber während von<br />

der Zeit zur Ewigkeit jeder Augenblick und vor allem jedes letzte Augenschliessen die Brücke<br />

schlägt, gehen vom Raum zum Reich Gottes keine festen Brücken, sondern nur der harte langsame<br />

bodengefesselte Weg über die Eine Erde. Die Seele hätte keine Weltgeschichte nötig. Aber weil wir<br />

Leib und Seele sind und also dem Gesetz des Raumes untertan, deshalb geht der lange Weg in der<br />

Zeit über die Erde. Die Ewigkeit umrauscht uns in jedem Augenblick, es brauchen uns bloss die<br />

Ohren aufgetan zu werden, im Leben und im Tode; sie war, ehe die Welt geschaffen wurde. Aber das<br />

Reich Gottes wird. Gott lässt sich leicht lieben, der Nächste sehr schwer (weil sich Gott schenkt, aber<br />

der Nächste nicht).<br />

Und doch -- hab du mich lieb!

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