Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 122 of 178<br />
pointiert im Gedächtnis und möchte gern die Einleitung zum II.Teil daraus machen. Bitte schreib sie<br />
mir heraus, der Säckinger Zensor wird ja inzwischen durch meine Briefe durch sein und du alles da<br />
haben. Es ist ganz dunkel; ich schreibe morgen weiter. Gute Nacht<br />
15.9.[18]<br />
In Üsküb. Ich war grad lang genug wieder draussen in der künstlichen Einsamkeit der Front, um<br />
das gewachsene Leben hier recht geniessen zu können. Über dem Gesicht einer Stadt liegt der Krieg<br />
doch höchstens wie eine Schminke während die Landschaft draussen wehrlos ist gegen die Furchen<br />
die er ihr eingräbt, die Erde wenigstens; die Wolken und das Licht lassen sich auch draussen nichts<br />
gefallen. - Ich schreibe wieder über Kassel; ein paar Briefe gingen jetzt postlagernd nach Wildungen.<br />
Eine für <strong>Eugen</strong>: aus einem Gespräch der Mannschaften neulich:" Die Flamen<br />
schreiben, wie sie sprechen". Man könnte einen langen Aufsatz darüber schreiben, ehe man die 6<br />
Worte ausgeschöpft hätte.<br />
Mir geht noch allerlei zwischen Kopf und Herzen hin und her - es ist aber jetzt keine Zeit, Worte<br />
dafür zu suchen.<br />
Dein Franz.<br />
Hin und her =<br />
17.9.[18]<br />
Liebes <strong>Gritli</strong>, - ich schrieb dir einmal vor kurzem, ich wollte meine Liebe wäre lauter. Wie wenig<br />
sie es schon ist, hat mir wieder der gestrige Tag gesagt. Es ist eine harte aber notwendige Prüfung,<br />
wenn man das eigene Herz unter diesen unermüdlich und unerbittlich fragenden Begriff der Sünde<br />
stellt, der sich nichts abmarkten lässt und der einem die Entschuldigungen und Ausflüchte und<br />
Beruhigungen selber zu Sünden werden lässt. Ich habe noch nie so sehr wie gestern gespürt, dass die<br />
unendliche Verzweigung der Fragen, die das gemeinsame Beichtbekenntnis an die einzelne Seele<br />
richtet, doch wirklich nur Verzweigung ist und an jedem einzelnen Punkt unsrer Menschlichkeit alle<br />
diese Fragen, die eine Unglaubliche Seelenkenntnis als einzelne herauspräparieren konnte, sich<br />
zusammenfinden. Ich kann den Juni nicht vergessen, wo sich unsre Herzen über dem Abgrund aller<br />
Möglichkeit im gemeinsamen Glauben an das Unmögliche trafen. Aber die Unvergessene und<br />
Unvergessliche, o du geliebte Seele, ist verschlungen jeden Augenblick solange wir leben in soviel<br />
ach wie gern schon im nächsten Augenblick wieder Vergessenes. Da können wir uns nicht gegeseitig<br />
helfen, weder du mir noch ich dir; diesen erwünschten Vergessenheitstrank haben wir nicht in<br />
unserer Hausapotheke. Und der ihn hat, der giebt ihn nicht als "Vergessen" zu trinken, sondern unter<br />
einer andern Etikette. Liebes, wie mir gestern einmal sehr dunkel vor Augen war, da ging mir ein<br />
Wort auf, das ich von Kind auf kannte; wir sagen zu Gott: vergib uns um deinetwillen, wenn nicht<br />
um unsretwillen. Ich glaube, das ist ein Lichtstrahl, dem kein Dunkel zu dicht ist - er bricht hindurch.<br />
Da wurde mir auch das Geschehen dieser letzten Wochen klar und zusammenhängend in den Grund<br />
meiner Seele, - ich meine die unbegreiflich vorzeitig reifende Frucht des Systems, denn eine Frucht<br />
ist es ja, auch wenn es gewiss nur Vorfrucht ist.