Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 170 of 178<br />
Ich war heute so ganz weg; jetzt gucke ich schon wieder verwundert auf mich zurück. Wie ich die<br />
letzten Seiten schrieb, wachte es in mir auf, dass ich es trotz und trotz allem noch bei lebendigem<br />
Leib veröffentlichen müsste, selbst wenn ich dadurch mir selber den Weg ins Öffentliche<br />
abschneiden würde. (Denn das ist ja der Grund, weshalb ich es nicht veröffentlichen kann; weil es<br />
mir eben wichtiger ist, zu leben als berühmt zu sein. Die Berühmtheit schiebe ich kaltblütig aufs<br />
Posthume ab. Es lebe meine Leiche! Vorläufig lebe ich lieber selber). Aus der Klammer siehst du ja<br />
schon, dass der Floh schon wieder aus dem Ohr herausgesprungen ist. Weisst du weshalb ich so gern<br />
jetzt nach Säckingen gegangen wäre. Ich wäre gern ohne dich hingegangen das erste Mal. Es frisst<br />
auch in mir, doch noch mal zu Kantorowicz zu gehen und unter irgend einem gelehrten Vorwand ins<br />
Studierzimmer. Es lebe die Gelehrsamkeit! Übrigens sind meine schlimmsten Lücken Indien und<br />
China, besonders Indien. Indisch werde ich vielleicht doch noch etwas lernen, nicht weil ich<br />
Übersetzungen nicht traue, aber weil nur die Ursprache mich hier noch zu dem naiven<br />
vorurteilslosen Lesen bringen kann was man schliesslich allem schuldig ist. Lese ichs deutsch, so<br />
suche ich Bestätigungen meiner vorgefassten Meinungen, das habe ich jetzt grade bei Indien jetzt<br />
öfters gemerkt. Nur die eigene Sprache reisst mich in die Sache selbst. Wo ich keine Vorurteile habe,<br />
schaden mir Übersetzungen gar nicht. Was schwätze ich denn? Ich möchte immerzu nur "liebes<br />
<strong>Gritli</strong>" schreiben. Ist es denn wirklich nur einen Monat her? Aber der Monat kommt mir unendlich<br />
lang vor (und doch das heute vor einem Monat so nah als wär es - nicht gestern, nein heute). Aber<br />
der Monat selbst: erst Doris, dann Kähler, dann der Kaiser (es ist keine Revolution freilich! - es ist<br />
nur eine Schmach!!!) und währenddem die zwei langen Bücher 2 u. 3 - es war sehr viel, Tod und<br />
Leben, Erinnerung und Gegenwart, und Erkenntnis.<br />
Ich hoffe nun selbst, dass Kähler am Sonnabend schon kann; ich möchte die lange Reise gern mit<br />
ihm machen, - schriebe freilich andrerseits auch das kleine Übergangskapitel gern, das ja nur etwa 15<br />
Seiten lang wird.<br />
Ach <strong>Gritli</strong> - was für dummes Zeug, und das dumme Telefon, aber es dauert jetzt wirklich nicht<br />
mehr lange. Ich hätte heut das Telefon schlagen mögen, es war mir als ob es mich von dir trennte.<br />
Ein Telefon kann das! --- das Leben nicht.<br />
Dein.<br />
Dezember <strong>1918</strong><br />
1.XII.[18]<br />
Liebes <strong>Gritli</strong>, - liebe Tochter deiner Mutter - denn das bist du ja doch. Ich schwimme noch ganz<br />
in diesen 24 (nicht ganz 24, haben die Zwillinge ausgerechnet) Stunden Säckingen. Es war noch viel<br />
schöner als ich erwartet hatte. Nachher ist mir eingefallen, du hattest mir einmal vorausgesagt, dass<br />
ich deine Mutter lieben würde, so ist es auch gekommen. Ich habe ihr infolgedessen ein schweres<br />
Unterhalten gemacht, indem ich sie manchmal einfach gross anguckte und vergass zu antworten<br />
wenn ich "dran" war. So ist es ihr mit mir (noch) nicht so gut gegangen wie mir mit ihr. Ich meine<br />
ich hätte noch nie eine Frau gesehn, die bei so viel innerem Pflichtgefühl so viel innere Anmut