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Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy

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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 62 of 178<br />

den nächsten - so sehr dass wahrscheinlich nichts aus ihm wird; aber das ist ja dann auch gleich - die<br />

Hauptsache ist ja doch dieser eine Tag; er klingt und braust noch voll und forte in mir, als ob er<br />

gestern gewesen wäre, ich sehe und spüre dich und halte deine geliebten Hände.<br />

Hier habe ich in dem Andrang von Eindrücken - auch das Mitlitärische gehört hier<br />

ausnahmsweise einmal zu den "Eindrücken" - auch unter der Menge von nachkommenden Briefen,<br />

die ich nicht auf der Stelle beantworten kann, ein ungewohnt atemloses Leben; ich möchte die Pfeiler<br />

des Tages gern auseinanderstossen, aber die Wölbung der 24 Stunden bleibt unverrückbar, der<br />

Schlafzwang der Natur und der Stundenzwang des Dienstes beinahe ebenso. Morgen Abend wieder<br />

Warschau -<br />

Wie wenig du, trotz Trudchens Brandbrief, von Mutters damaliger Stimmung ahnst, zeigt mir<br />

dein Raten in der Richtung "Eifersucht auf H.Cohen" zur Erklärung des bitteren Tons in dem sie von<br />

meinen Kassler 8 Tagen spricht. Ach nein - es ging auf ganz jemand anders. <strong>Gritli</strong>, du weisst wie zu<br />

Unrecht, und wenn je zu Unrecht dann grade in diesen "8 Tagen"!! Sie war ganz erfüllt davon, fing<br />

immer wieder davon an; was ich sagte, fiel alles ins Leere; andrerseits was sie sagte war alles<br />

ungreifbar, beileibe sollte es nichts Bestimmtes sein, es blieb alles höchst allgemein - es war<br />

scheusslich. Wenn es sich jetzt zu einer bitteren Erinnerung an jene 8 Tage kondensiert hat, so bin<br />

ich froh; denn das bedeutet, dass sie es sich historisch abkapselt; sie giebt sich selbstverständlich<br />

recht (das muss sein, schon weil es das letzte war, worüber sie sich mit Vater in der letzten Nacht<br />

gesorgt hat), aber es liegt nun zurück, gehört jenen 8 Tagen an. Dass sie es sich so abkapselt, liegt<br />

einfach daran, dass sie dich in ihrer Weise lieb hat, jetzt wirkliche Sehnsucht nach dir hatte, froh ist<br />

dich um sich zu haben - und also ihren Einspruch gegen dich neutralisieren muss, indem sie ihn in<br />

eine schon historischgewordene Vergangenheit verbannt. Lass gut sein, <strong>Gritli</strong>, rühre nicht daran, sie<br />

wird dich nie verstehn, und braucht und liebt dich doch; gieb ihr was sie verträgt und kümmere (und<br />

bekümmere vor allem) dich nicht um das Unlösbare und Unerlösbare in ihr. Es ist unerlösbar,<br />

wenigstens jetzt seit dem 19.März. Es wäre eine Verleugnung Vaters, eine Verleugnung ihrer Ehe,<br />

wenn sie jetzt anders werden sollte. Sie muss sich das Anderssein der Andern als<br />

Generations-unterschied vergleichgültigen; es darf sie nichts angehen. Sie muss vom [vorm?] lieben<br />

Gott sagen: ce n'est pas de mon age - wie das kleine Mädchen am Strande in Trouville, das Oskar<br />

A.H.Schmitz beobachtete; ein kleiner Junge hatte gesagt, sie wollten spielen. Du meinst, die<br />

Menschen hätten eine natürliche Sehnsucht und zwängen sich gewaltsam sie zu verleugnen. Es ist<br />

so, - aber das spricht weniger gegen die Menschen als gegen diese Sehnsucht. Diese Sehnsucht ist<br />

recht nichtsnutzig; sie treibt den Neger zu seinem Fetisch. Der Atheismus, der sie verleugnet, ist<br />

ehrwürdig; er ist die andre Seite der Offenbarung. Die Offenbarung knüpft nicht an diese natürliche<br />

Sehnsucht an, sondern rodet Neuland. Die Profeten wie die Kirchenväter kämpfen eigentlich gegen<br />

das Heidentum mit Argumenten ganz allgemeiner Skepsis. Jene Sehnsucht aller Menschen sucht sich<br />

heute mit Recht andre Erfüllung: "Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, ..." Oder sie führt, auch<br />

heute noch, wieder ins ganz richtige Heidentum sans phrases oder avec de phrases hinein, etwa in<br />

den Spiritismus. Der Mensch sucht - nicht Gott; aber Gott sucht den Menschen; lies den Schlussvers<br />

des 119.Psalms. Der Mensch wird gefunden, nicht weil er sucht, sondern - obwohl er sucht, denn<br />

sein Suchen ist Irren.<br />

- Sag, ist das Freytag = Loringhoven Autogramm noch gekommen? Hans ist durch <strong>Eugen</strong>

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