Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 74 of 178<br />
Ader - in dir müssen sich die stockenden Pulse mischen und erneuern -<br />
Liebes <strong>Gritli</strong>, du schreibst noch von Louis O. Ich habe dich doch vorbereitet; ich kann dir auch<br />
jetzt nicht mehr darüber sagen als damals. Trudchen ist nicht trotz ihm so geworden, sondern sie war<br />
schon das was du heute kennst, als er kam; aber sie ist es geblieben nicht trotz ihm, sondern durch<br />
ihn, durch die zage und zarte Art, die Angst hatte, in ihr Leben fest hineinzugreifen - gewiss die<br />
vielleicht auch kaum fähig dazu war, wenn sie es nicht zerstören wollte. Dass dies Leben da stehen<br />
bleiben würde wo es stand, das habe ich gewusst als sie sich verlobten. Aber ich glaubte damals, das<br />
Einfache, das Allgemeine und Notwendige, zu deutsch: ein Mann, ein Haus, vier Kinder, das sei<br />
noch mehr als die unbegrenzten Wachstumsmöglichkeiten der Flügel der Seele. Ich habe daran<br />
später zweifeln und noch später wieder daran glauben gelernt. Und heute glaube ich daran wie man<br />
an die Regel glaubt und doch sich gezwungen sehen kann auch an die Ausnahmen zu glauben, und<br />
bin so über Trudchen beruhigt, ohne dass ich dächte es wäre schon aller Tage Abend. (Das darf man<br />
ja doch nie denken). Louis' mangelnder Judenstolz - das ist es wohl nicht, eher sein mangelnder Stolz<br />
überhaupt. Jude ohne Judenstolz war etwa auch Walter Löb, und doch hättest du den liebhaben<br />
müssen wie ich. Er ist ein undeutlicher Mensch und das Beste an ihm ist die Liebe zu dem deutlichen<br />
Trudchen. Aber ist einer nicht soviel wert wie seine Liebe? Freilich das ist wohl ein Gesichtspunkt<br />
für den Weltrichter, aber unsre Zu= und Abneigungen gehen ihre besonderen Wege. Es geht mir ja<br />
mit ihm genau wie dir.<br />
Schlaf wohl. Auf Wiedersehn –<br />
Dein Franz.<br />
25.VI.[18]<br />
Liebes <strong>Gritli</strong>, schon heut morgen überdachte ich nochmal das Wort von der "Giftformel" und<br />
begriff es plötzlich - ohne mir doch selber zu trauen; aber dein Brief mittags brachte die Bestätigung.<br />
Ich staune selbst jetzt noch. Wäre ich eine Spur mehr "Grossinquisitor" als ichs bin, könnte ichs hier<br />
auch nur eine Spur sein, so müsste mir dies doch ein grosses Ereignis sein. Auch so kann es mir noch<br />
sagen, dass wirklich die Gegenkräfte schon mit so fanatischer Ausschliesslichkeit am Werke sein<br />
müssen wie das im Hause <strong>Rosenstock</strong> war, um zu einem so innerlich hemmungslosen Christwerden<br />
wie damals <strong>Eugen</strong>s (oder auch Hansens) zu führen. Das lernt, wie du schon aus der trocknen<br />
Nebeneinanderstel-lung Hans = <strong>Eugen</strong> siehst, der Verfasser von Zeit ists daraus. Das Brodsche<br />
Gedicht klagt die rechten Stellen an. Aber bei <strong>Eugen</strong> heute - oh nein, es ist keine "Nachsicht", wenn<br />
ihm der leibliche Bruder die Freiheit zugesteht; es ist ein verzweifeltes Müssen. Es ist ein<br />
Anerkennen müssen, dass sogar das Judentum nicht bloss im "Geblüte" gegründet zu sein braucht,<br />
sondern notwendig auch im "Gemüte". Er ist und bleibt Heidenchrist. Sein Schrecken über (und<br />
infolgedessen Zorn auf) das Judentum ist das Gefühl jedes Christen, gar nicht des Judenchristen<br />
speziell. Du würdest selber diesen Schrecken über die Vorwegnahme der Vollkommenheit als einer<br />
bluterblichen Gnadengabe auch spüren, wenn du - Christ wärest und nicht Christin. Das ist das<br />
Vorrecht und die Vorpflicht des Mannes im Christentum, dass er auch die Welt sieht und an ihr das<br />
christliche Leiden und die christliche Leidenschaft erfährt. Den Mann macht das Christentum<br />
zusehends weltlicher, die Frau "zusehends" seelischer. Darum, liebes, weil du auf diesem Wege bist,