Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 151 of 178<br />
auch Kantorowiczs zu sehn; hoffentlich wissen sie nicht dass ich hier bin. Meine übrige Zeit, oder<br />
viel mehr die Zeit die ich mir freimache, gehört Kähler. Ich las deinen Brief wieder vom 2.XI.; da<br />
schreibst du von der Luft die über die gefallenen Grenzen hereinweht und die von Russland<br />
herübergreifende Bewegung. Ich kann nicht mit und ich wollte, <strong>Eugen</strong> könnte auch nicht mit. Die<br />
Bewegung ist eben doch nicht alles. Ich sehe vorläufig nur ein Gemeng aus Zwang und Unordnung,<br />
und das Hochkommen der Hermann Michels. Ich lerne nachträglich sogar mich nicht bloss als<br />
Deutschen, sondern - ganz neu - sogar mich als Preussen fühlen. Ich glaube, nach dieser Erfahrung<br />
werde ich nie wieder "Demokrat". Es ist ebenso unmöglich wie Pazifizismus. In aller Zeit gilt<br />
Herrschaft und Krieg. Freiheit und Frieden liegen nur - jenseits. Zwischen allem hindurch hatte ich<br />
wohl auch das Gefühl des wieder = Luft = werdens ("dass wieder weiter werde unsre Welt"). Aber<br />
seit der Revolution nicht mehr. Denn nun ist doch auch das Innere eng zum Ersticken. Ich verstehe<br />
erst jetzt richtig, was <strong>Eugen</strong> vom Untergang der Universitäten sagt. Die "Kultur", die unser war, wird<br />
noch zu unsern Lebzeiten untergehn wie etwa die ritterliche um 1500 (unter den ersten Drucken ist<br />
noch der Parcifal und Nibelungenhandschriften sind noch bis Ende des 15.scl. abgeschrieben. Schon<br />
Luther hat beides sicher nicht mehr gekannt. Ein Neues wird ja kommen. Aber es ist nicht unsres.<br />
Wie schon der kalte Revolutionsidealismus der jungen Dichter nicht mehr unser war. Es fehlt die<br />
Büchnersche Schlusswendung, das Vive le roi. Ich habe nie gern hurra gerufen, aber jetzt gäbe ich<br />
etwas darum, ich dürfte es noch einmal.<br />
Ich bin traurig. Und ich wünschte, <strong>Eugen</strong> wäre es auch, und nichts andres. Es wäre ein Jammer,<br />
wenn er wieder zum Sachwalter der Breitscheidschen Ressentiments würde. Sei gut zu ihm - und zu<br />
mir.<br />
Dein.<br />
12. und 13.11.[18]<br />
Liebes <strong>Gritli</strong>, mir ist übel vor diesem ganzen Betrieb, ich bin ein einziges Vive le roi; ich grüsse<br />
die Offiziere, seit es verboten ist, mit wahrer Inbrunst. So ist es mir auch ein greulicher Gedanke,<br />
dass <strong>Eugen</strong> nun doch mittut und also mit einer roten Kokarde in irgend einem Büro sitzt. Ganz<br />
abgesehen davon, dass das was der Christ "<strong>Rosenstock</strong>" da tut, nachher beim nächsten<br />
(demokratischen oder monarchischen) Pogrom - und auf was soll eine Revolution in Deutschland<br />
schliesslich hinauslaufen wenn nicht auf eine Judenhetze; dies Volk, das immer gegen sich selbst<br />
wütet, hat den allgemeinen Sündenbock der Völker deswegen zur Ablenkung ganz besonders nötig -<br />
die Kassler Juden büssen müssen. Die doch wirklich nichts dafür können. Aber überhaupt, wenn die<br />
Krone wirklich das "Volkssanktuarium" war, wie er mir voriges Jahr schrieb, dann ist nun wo dies<br />
Palladium entwendet ist, für die die dran geglaubt haben, keine Möglichkeit mitzutun. Ihren Gang<br />
geht die Bewegung von selber weiter, ob man mittut oder nicht. Solange zu essen da ist, friedlich.<br />
Nachher wenns aufgebraucht ist, mit Mord und Totschlag. Wie ist ihm denn bei der Vorstellung von<br />
Liebknecht auf dem Schlossbalkon zumute? Parteien kennt der ja allerdings auch nicht, nämlich nur<br />
seine eigne. Über Burfeldes und Paasches (und auch Liebknechts) Befreiung habe ich mich gefreut;<br />
dass aber mein politisches Schicksal jetzt in die Hand solcher Dümmlinge gelegt ist, ist doch nicht<br />
sehr beruhigend. Sonst weiss man doch nicht, was für Esel über einem walten, in diesem Fall sind es<br />
aber drei öffentlich kompromittierte Naivusse und Pacificusse, die man schon kennt. Dass die Politik