Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 150 of 178<br />
etwas dicklich geworden und manchmal wurde ihm sehr schwach und er musste sich setzen und in<br />
seinem Stuhl zurücklehnen. Er war mir böse, dass ich noch nicht in Kassel bei Mutter wäre und als<br />
ich zur Entschuldigung meine Arbeit anführte, an der ich schrieb, liess er es nicht gelten und sagte<br />
"Lass doch die Witzchen" (kurioserweise; ein Wort, das er so wenig gebrauchte wie ich selber "die<br />
Witzchen"). Und ich wollte ihm grad noch sagen, es handle sich um ein grosses Buch von ca 400<br />
Seiten, nicht um ein kleines anum von 40, um ihn zu informieren. Aber ich kam nicht mehr dazu. Es<br />
war auch ein Traum, der einem den Tag über nachgeht.<br />
Kählers Vater ist manchmal ans Fenster gegangen, hat hinausgestarrt und dann gesagt, mit leisem<br />
Schauder: "Das möchte ich nicht mehr erleben". Damit meinte er den künftigen Krieg. - Als ihm<br />
Kähler einmal von deutscher Zukunft sprach, sagte er, er habe 1870 das bestimmte Gefühl gehabt,<br />
dass er den Kulminationspunkt seines Volkes erlebe.<br />
Greda zu sehen ging ja nicht mehr; es gab noch gar keinen Urlaub wegen der Sperre. Aber ich<br />
hätte auch eine Scheu gehabt vor so einer quasi Besichtigung beiderseits. Wenn man sich besichtigt,<br />
kann man sich nicht sehen. Es ist besser, wir warten auf das "von selbst". Man soll sich den leisen<br />
Schrecken des ersten Sehens nicht nehmen; er ist das Beste und enthält eigentlich das ganze<br />
Schicksal der Zukunft in sich. Und man zerstört sich ihn, wenn man sich verabredet. Weshalb<br />
empfinden wir eine auf Grund einer Zeitungsannonce zustandekommende Ehe als so greulich? Die<br />
Menschen können doch nett sein. Aber der Zauber des "Zufalls" ist der Begegnung geraubt. Dieser<br />
"Zufall" ist doch eben Gottes Stellvertreter. So ein Zufall war der Mittwoch vor 8 Tagen in der<br />
Universität.<br />
Nach Säckingen komme ich ja nun nicht mehr, wo ich so bald hier fortkomme.<br />
Die Hermann Michels werden ja nun demnächst auch blutig werden. Auch Robespierre hatte<br />
den "pazifistischen Zug um den Mund".<br />
Du schreibst vom Sonntag, der bleiben wird, auch wenn Europa versinkt. Ich war heut abend,<br />
als die Bedingungen heraus waren mit Kähler einen Augenblick im Münster, da sahen wir auch mit<br />
Augen, was vorher war, was nachher bleiben wird. Es gingen Menschen in dem Chorumgang hinter<br />
dem Gitter, mit Lichtern, und man hatte das Gefühl, sie gingen geschützt vor dem Einsturz der Welt<br />
hier einem ewigen Geschäfte, ihrem Geschäfte, nach. Was sind denn solche Dome anders als das<br />
steingewordene "Dennoch" gegen die Welt in der Welt. Vor den letzten Versen deines (und meines)<br />
46ten (und ja auch Luthers, der heute, am Tag der Bedingungen, geboren ist, und Schiller auch) - vor<br />
diesen letzten Versen müsste doch Wilson ganz klein werden. Die Bedingung mit den<br />
Kriegsgefangenen ist die abgründige Gemeinheit. Hier darf man hassen. So etwas hätte der<br />
"preussische Militarismus" nicht ausgedacht; das hätte dem Rest ritterliches Tradition<br />
widersprochen, die doch noch in ihm lebendig war. --- Ich habe dich lieb <strong>Gritli</strong><br />
Dein Franz.<br />
11.XI.[18]<br />
Liebes <strong>Gritli</strong>, doch ein paar Worte. Ich werde ja nun von hier fortgehn, ohne J.Cohn und ohne