Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 94 of 178<br />
Wie geht es dir, <strong>Gritli</strong>? Sags mir, sags mir bald.<br />
Dein Franz .<br />
20.VIII.[18]<br />
Liebes <strong>Gritli</strong>, inzwischen verschieben sich meine Urlaubsaussichten, - ganz abgesehn von der<br />
Wahrscheinlichkeit, dass ich vom Zug fortkomme - abermals um 2 Monate. Es heisst nämlich<br />
solange sollten die zurückgesetzt werden, die das letzte Mal von der Urlaubs-sperre profitiert hätten.<br />
Aber es ist überhaupt aufreibend, an Urlaub zu denken; es hemmt den nun mal notwendigen Prozess<br />
der Verkrustung. Man muss "an Ort und Stelle" sein und den Tag nehmen wie er gelaufen kommt<br />
und gar nicht daran denken, dass es anders sein könnte. Freilich gehört dazu auch, dass erst einmal<br />
das Briefleben wieder im Fluss ist und bis jetzt ist es noch nicht einmal mit Kassel wieder zum<br />
ersten Hin und Her gekommen, - von Säckingen gar nicht zu reden, das doch wirklich auch in dieser<br />
Beziehung, und nicht bloss wegen der Schweizer Grenznähe, <strong>Eugen</strong>s Benennung als "Ultima Thule"<br />
verdient. Aber das ist ja nun nur noch eine Frage von Tagen, und ich will nicht ungeduldig sein. Ists<br />
am Ende auch die absolut aussichts= und endlose Kriegssituation, die auf einem lastet? So war es<br />
voriges Jahr um diese Zeit nicht, wenigstens in der äusseren Politik nicht; da spitzte sich alles auf<br />
den günstigen Moment zu, der dann um die Jahreswende eintrat und dessen Chancen dann in diesem<br />
Jahr systematisch verpulvert wurden, bis wir schliesslich da standen wo wir heute stehn. Manchmal<br />
ist mir zumute wie <strong>Eugen</strong> jetzt zumut gewesen sein muss: ich zweifle, ob wir, selbst wenn wir<br />
nachher noch da sind, überhaupt noch die Kraft haben werden unsre Arbeit, ich meine: unsre<br />
eigentliche Arbeit, zu tun. Wir sind ja grade um den für das "Heraustreten" entscheidenden<br />
Augenblick, eben die Wende von 20 zu 30, durch den Krieg betrogen. Wollen wir das, was wir als<br />
28jährige hätten sagen müssen, dereinst als 35jährige sagen, so ist eine neue Jugend da und wir sind<br />
schon veraltet in dem Augenblick wo wir erst den Mund auftun möchten. Die Neuen sprechen schon<br />
eine neue Sprache und verstehen wohl noch was wir reden, aber nicht mehr was in uns redet, was wir<br />
hörten, - also nicht mehr uns. (Glaub, kein Zwanzigjähriger versteht heute mehr einen Vers wie den:<br />
"..und dennoch sagt der viel, der Abend sagt..". Auch wir haben ja diesen Vers und alles was dazu<br />
gehört in uns ausgelöscht, aber wir haben ihn doch erst einmal vernommen).<br />
So sind wir wahrhaftig auf eine Klippe gestellt und müssen - ganz streng: müssen - zum Himmel<br />
der Ewigkeit auffliegen oder im Meer der Vergangenheit ersaufen; der Strom der Zeit hat uns<br />
ausgespien. Wir müssen das Zeitlose leisten, denn der Zeit genug zu tun und es ihr anheimzustellen<br />
ob sie es weiter trägt, ist uns schon versagt. Aber wie soll einen dieser Zwang zum Allesodernichts<br />
nicht verzagt machen? Man kann wohl Allesodernichts wollen, aber es müssen ist mehr als der<br />
Mensch erträgt. Und es giebt keine Rückkehr in die Zeit; wer einmal herausgefallen ist, bleibt<br />
draussen; nur wenn das eigene Leben lückenlos läuft, hält es mit der Zeit Schritt, und der Krieg war<br />
Lücke. Es giebt keinen Rückweg, nur den Weg jenes Müssens; nur die Gefallenen sind über jenes<br />
Muss hinaus. Und doch kann ich mich selber nur als Übrigbleibenden denken.<br />
Dein Franz.<br />
21.VIII.[18]