Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 144 of 178<br />
1.XI.[18]<br />
Liebes <strong>Gritli</strong>, heut habe ich zum ersten Mal wieder einen ganzen Tag gehabt und gleich auch<br />
wieder den ganzen Tag geschrieben. Diese Stimme reisst eben scheinbar nicht ab, ganz einerlei<br />
welche andern Stimmen in der schrecklich polyphonen Symfonie des Lebens noch mittönen. Ich<br />
habe mich noch nicht zu einem Brief an B. aufraffen können. Steckte ich nicht in der elenden<br />
Uniform, so würde ich nun zu ihm fahren und einfach eine Zeitlang bei ihm leben. Er hatte ja - das<br />
wusstest du nicht - alle inneren Ansprüche, die ja auch er stellte, sozusagen sein ganzes<br />
"metaphysisches" Teil, an diese Frau ab= und für sie aufgegeben. Er hatte verzichtet, mit einem<br />
gewissen Bewusstsein verzichtet, mehr zu werden als er war, und war mit beiden Füssen ins Glück<br />
und Nichtsalsglück hineingesprungen. Nun hat er das begraben und muss sich doppelt leer<br />
vorkommen; denn er ist weniger als er früher war. Ich spüre deutlich dass ich mehr mit ihm mitleide<br />
als unmittelbar um sie mich gräme. Ich hing wohl an ihr nur durch seine Vermittlung, - wie ja auch<br />
an dem ersten Abend, wo die beiden sich seit ihrer Kindheit wiedersahen und ich sie zu Tisch führte,<br />
sie mir keinen starken Eindruck machte, während gleich zu merken war, dass er, der sich auf ihre<br />
rechte Seite placiert hatte, sich für sie enflammierte. Dabei bleibt es natürlich wahr, dass an ihr viel<br />
mehr war als an ihm. Aber Freundschaft und Liebe gehen ja nicht nach solchen objektiven<br />
"Wahrheiten". "Leicht sind sie besser - du bist gut" sagt Walter v.d.Vogelw. Gegen Abend war ich<br />
wieder ein paar Stunden mit Kähler. Es ist gut und doch nicht das, was nocheinmal zwischen uns<br />
kommen muss. Das bleibt mir und ihm nicht erspart. (Übrigens konnte ich nicht verhindern, dass er<br />
sich meiner - annimmt!) und meine steckende Wohnungsangelegenheit etwas bei der Abteilung IX 1<br />
in Fluss bringt! - Als Doris starb, waren wir wohl grade in Frankfurt beisammen - . Ich habe noch<br />
kein Wort von dir seitdem (auch Geld ist übrigens keins gekommen). Was mag wohl sein?<br />
Dein Franz.<br />
2.XI.[18]<br />
Geliebtes Herz, was ist das für ein Jahr des Todes - und doch nicht bloss des Todes, sondern auch<br />
dessen was stark ist wie der Tod. Meine Seele zieht ihre Kreise um dich und liebt dich. Dies Buch II<br />
2 an dem ich jetzt schreibe gehört dir noch viel eigener als das <strong>Gritli</strong>anum, grade weil es nicht von<br />
vornherein für dich bestimmt war und es ja auch jetzt nicht ist. Es ist nicht "Dir" aber - dein. Dein -<br />
wie ich. Manchmal ist mir, als wäre ich ein Kind, das nicht schreiben kann und es doch gern möchte<br />
und du führtest mir die Feder. Tu's weiter, Geliebte.<br />
Ich wohne nun ausserhalb der Kaserne und werde wohl 4-5 Wochen sicher hierbleiben, indem ich<br />
(Schnells Geschoss) zu einem Kurs kommandirt werde; der nimmt mir weniger Zeit weg als der<br />
übliche Dienst und ist nicht so ärgerlich. Es ist schön, ein Zimmer fü r sich zu haben. Dies behalte<br />
ich vielleicht nur ein paar Tage und ziehe dann zu meinen alten Wirtsfräuleins. Verloren geht mir<br />
durch den Kurs zwar der sonst sichre Kriegsanleiheurlaub von 6-8 Tagen. Aber du weisst ja, dass ich<br />
jetzt gar nicht rechte Lust auf Urlaub habe. Wenn ich den II.Teil geschrieben habe und den dritten<br />
angefangen, dann viel eher; denn III 1 und III 2 sehe ich ohne Erregung entgegen; sie werden mehr<br />
oder weniger bloss eine Darstellung von mir nun längst alten Geschichten sein; die "tümer" sind mir<br />
ja überhaupt jetzt, wenigstens wenn ich am Stern schreibe, fast unwichtig geworden; erst vor III 3