Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 115 of 178<br />
doch sich nicht wegdisputieren lässt: dass ich noch nie einen Menschen gekannt habe, dessen Tod so<br />
sehr quantité négligeable ist; ich vergesse immer wieder, dass er tot ist und wenn es mir dann<br />
einfällt, erschrecke ich nicht darüber; es ist ja wahr - aber was macht es!! Das Lebendige an ihm ist<br />
nicht tot zu kriegen gewesen. Sein letztes klares Wort soll gewesen sein: "Ist es nicht schade um<br />
mich?" Ja wirklich, und weil es schade um ihn gewesen wäre, so hat der Tod eben keine Vollmacht<br />
über ihn bekommen. Wie fern ist sie ihm geblieben, dass sie davon nichts verspürt. Aber es ist nicht<br />
ihre Schuld sondern seine. Er hat den Kampf gescheut, den es gekostet hätte. Es war in ihm etwas,<br />
was sehr jüdisch ist (oder geworden ist), nämlich unbeschadet und dicht neben der grössten<br />
Unbedingtheit wieder ein Fünfegradseinlassen. Ein sich selber Hinweglügen und Hinwegtäuschen<br />
über das Misslungene oder Allzuschwere und deshalb kaum Versuchte (mir immer sehr auffällig in<br />
dem inneren Verhalten zu der völligen jüdischen Indifferenz seines nächst Natorp bedeutendsten<br />
Schülers Cassierer - ich habe ihn direkt darauf "gestellt", da suchte ers zu beschönigen und wollte<br />
doch "ein bischen" finden und war zuletzt noch glücklich - glücklich!! - dass Cassierer, nachdem er<br />
gehört hatte, dass ich die Druckbogen des Judenbuchs las, sich bewogen gefunden hatte, doch auch<br />
darum zu bitten); also er hatte in solchen Fällen einen gewissen weinerlichen Ton, etwas unendlich<br />
Rührendes, er bat gleichsam um Entschuldigung für die Unvollkommen-heit der Welt -: "was wollen<br />
Sie"; es war alles durcheinander: Skepsis und Illusionsfähig-keit und Glauben und Verzweif-lung.<br />
Aber diese allermenschlichste Mischung hat ihn dann wohl auch gelegentlich am Möglichen<br />
verzweifeln lassen, besonders wo nun gar die Liebe den Mangel von beiden Seiten zudeckte. Und<br />
das war wohl hier. Nun "rächt" es sich, und sie zahlt den Preis nach für die Leiden, die ihr in der<br />
Vergangenheit widerrechtlich erspart geblieben sind. Noch etwas; weisst du was sehr stark bei<br />
diesem Einschläfern beteiligt war? die Gemein-samkeit in der Musik. Musik ist die allergefährlichste<br />
Kunst, sie gewöhnt einen an die Stummheit des "unter dem Wort" und wiegt einen in den Glauben,<br />
es wäre das Schweigen "jenseits der Worte". Es ist ein Stück Selbstzucht, das nicht zu verwechseln<br />
und die Musik befördert die Verwechslung.<br />
Ich habe noch allerlei auf dem Herzen, womit ich hätte anfangen sollen, was mir dein Brief<br />
aufgerührt hat. Meine ruhige Zeit ist aber um; so verschiebe ichs auf morgen. - Stummsein war auch<br />
hier leichter und bedrückt doch; ich hoffe Worte zu finden. -<br />
Ich liebe dich.<br />
7.9.[18]<br />
Liebes <strong>Gritli</strong>, es ist mir wieder so schön gleichzeitig zumute; das macht dass nun unsre Briefe<br />
wieder hin= und hergehen. - Heut morgen habe ich - eine sonderbare Feier des Tages - aber ich bin<br />
allein, losgelöst, losgelöster noch als sonst - also heut morgen habe ich das "erste Buch" geschlossen<br />
(und zur Sicherheit gleich den ersten Satz des zweiten darunter geschrieben). Ich komme von der<br />
hochtrabenden Benennung "Buch" nicht los, obwohl diese ersten 3 "Bücher" jedes nur etwa 20<br />
Druckseiten lang werden; aber es ginge eben in den aufgestellten Rahmen noch viel mehr hinein,<br />
z.B. die ganze Theologie des Heidentums, die ich nur in ein paar Pointen gegeben habe. So vertröste<br />
ich mich selbst mit der Bezeichnung "Buch", grade weil ich über die einzelnen "Bücher" weg zum<br />
ganzen Buch hindränge. Vorerst wird es freilich in den nächsten Tagen eine Unterbrechung geben;<br />
bis der Brief bei dir ist, werden "wir" wohl schon im Deutschen Tagesbericht stehen (bzw. nicht