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Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy

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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 147 of 178<br />

vorhersehen konnten.<br />

Aber nun will ich wirklich anfangen, die Briefe einzeln vorzunehmen und zu antworten. Du<br />

bist doch in jedem drin, und eine Ganze. Vor so vielen einzelnen Briefen spürt man es deutlicher als<br />

bei einem einzelnen, dass Briefe nicht der Mensch selber sind; den einzelnen Brief für den Menschen<br />

selber zu nehmen, überredet sich das sehnsüchtige Herz viel leichter.<br />

Inzwischen habe ich zu Mittag gegessen, und dabei erfahren, dass dieser Brief vielleicht schon<br />

nicht mehr durchkommt. Es ist mir eine Beruhigung, dass <strong>Eugen</strong> in Kassel ist; allerdings wenn noch<br />

Züge gehn, müsste er ja jetzt nach Berlin. Es geht noch rascher weiter als ich in den letzten Tagen<br />

dachte. Es wird nichts übrig bleiben als die Entente ins Land zu bitten, wie wir vor einem halben<br />

Jahr in die Ukraine gerufen wurden. <strong>Eugen</strong>s Aufsatz hatte ich neulich noch nicht, er kam erst später.<br />

In seiner Unumschriebenheit hat er mir besser gefallen als das Gleichnis in Siegfrieds Tod. Ich gab<br />

ihn gestern Abend auch Mündels. (Die Geldnot wird übrigens wieder akut für mich. Wenn ich jetzt<br />

plötzlich fort müsste, so könnte ich weder Hotel noch Mündel noch Eisenbahn bezahlen. Eine Frage:<br />

das Telegramm das du mir schicktest, bedeutet doch weiter nichts; ihr habt das Geld doch nicht<br />

abschicken können? oder liegt es etwa hier und wartet, dass ich es hole?)<br />

Liebes, ich lese deinen ersten Brief, den vom 28., wieder; es ist nichts zu "beantworten", es ist<br />

ja alles wie du sagst, das von den getrennten Häusern unsrer irdischen Hülle, und alles. Es ist nichts<br />

zu sagen; ich musste den Brief küssen faute de mieux.<br />

Marie Herterich kannte ich, flüchtig nur. Sie war reizvoll; aber unheimlich in der<br />

Zusammenhangslosigkeit mit ihrer Mutter, ich meine die äussere, körperliche<br />

Zusammenhangslosigkeit; von dem inneren Verhältnis der beiden wusste ich nichts.<br />

Ich sitze wieder bei Herrn Mündel und erschrecke über die Schwierigkeit von II 1; er ist eben<br />

malgré moi doch eine komplette Logik in nuce geworden. Und inzwischen machen die Münchner<br />

eine Republik und was in Berlin geschehen ist wird man vielleicht heut Abend schon hören. Und<br />

Kassel? und Terrasse 1? Ich kann nicht verzweifeln; der * hat einen starken Auftrieb und hält mich<br />

über allen Wassern; es ist mir noch nie so mit etwas Geschriebenem gegangen; freilich war auch<br />

noch nie in etwas was ich schrieb soviel von meinem vergangenen und zukünftigen Leben - das<br />

gegenwärtige, immer gegenwärtige, auch nicht zu vergessen, du Unvergessliche, immer<br />

Gegenwärtige -. In allem andern war nur entweder mein vergangenes oder gegenwärtiges oder<br />

zukünftiges Leben.<br />

Was du von deinem Kindergebet sagst, ist wahr. Es steht auch im * so, oder vielmehr es wird<br />

so drin stehen; ies gehört zu den Übergangspartien von II nach III, die mir jetzt klar sind. Wenn man<br />

es ganz wirklich beten kann, ist man auch todesbereit; denn das gehört freilich zur Frömmigkeit,<br />

sogut wie es überhaupt zur Liebe gehört. Ich spüre noch heute nach, wie in mir zum ersten Mal<br />

dieses Gefühl des Sterbenkönnens, Nunsterbenkönnens lebendig wurde eben in dem Augenblick wo<br />

ich, als Vierzehnjäh-riger wohl, zuerst lebendig wurde. Nicht todesbereit sein heisst nämlich weiter<br />

nichts als - nicht ganz lebendig sein; im höchsten Leben ist mans. Und was du Frömmigkeit nennst,<br />

ist ja nichts als dies höchste Leben. Dem Lebenwollen widerspricht also die Todesbereitschaft nur

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