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Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy

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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 146 of 178<br />

unheimlich; es wird mir gehen wie 1914, ich werde versuchen müssen, innerlich und äusserlich<br />

neutral zu bleiben, und es wird mir ebensowenig wie damals auf die Dauer gelingen; und dann wird<br />

mein Platz, aus dem gleichen Grund wie damals, nämlich weil es das Natürliche, Nächstliegende und<br />

Unvermeidliche ist, auf der reaktionären Seite sein, und doch nur, wie damals ja auch, mit halbem<br />

Herzen.<br />

Vorläufig aber sitze ich also wieder am Münsterplatz, im "Geist"; der Name verwunderte mich<br />

erst, als ich gestern Abend auf dem Teller das Hotelwappen, die Taube mit dem Heiligenschein, sah.<br />

Ich war gestern wie ein Verrückter; ich hatte erst in einer Pension nahe bei dem Kurs = Schauplatz<br />

gemietet, dann fiel es mir schwer auf die Seele, dass ich nun also wieder so wie diese Woche in<br />

Freiburg ausserhalb Freiburgs wohnen sollte - mir war es die ganze Zeit gewesen, als ob ich gar nicht<br />

in Freiburg wäre sondern, immer noch wie die vergangenen Jahre bloss da spukte. Und als ich<br />

abends den gemeinsamen Tisch sah, erschrak ich so vor dem Gedanken eines gemeinsamen Essens<br />

mit Fremden, dass ich die Pensionsmutter ganz verwirrt ansprach, ich müsse wieder fort; sie liess<br />

mich, weil sie offenbar dachte, ich wäre nicht recht im Kopf, ruhig gehen; und nun bin ich hier, in<br />

einem etwas ungemütlichen, nämlich zweibettigen, Zimmerchen, aber nach vorn heraus. So denkt<br />

man nun, man wäre anspruchslos geworden und nicht mehr wählerisch, und sowie man nur mal<br />

wieder die Wahl hat, ist man wieder ihrer ganzen Qual verfallen, und eher schlimmer noch als<br />

früher. Aber die Hauptsache: ich bin nun wieder in Freiburg.<br />

Ich möchte dir gern vom Stern erzählen, aber es geht nicht, es ist zu viel. Der Übergang von II<br />

zu III, ich meine nicht das Übergangskapitel, sondern die Einleitung für Rudi, wird jetzt im einzelnen<br />

klarer; es sind alles ganz einfache Gedanken, so einfach wie das vom Wunder in der IIten Einleitung;<br />

hat dir das nicht auch einge = leuchtet? ich meine, ob du nun nicht auch das Gefühl hast, zu wissen,<br />

was ein Wunder ist; mir geht es so.<br />

Deine Briefflut trat ein gleich am Morgen, nachdem ich angefangen hatte, über die Ebbe zu<br />

erschrecken. Jetzt weiss ich kaum, wo anfangen mit Antworten. Ich will sie einmal der Reihe nach<br />

legen. Obwohl das auch dumm ist. Ich freue mich so, dass du da bist, ohne alle Reihehfolge. Nein<br />

<strong>Gritli</strong>, du musst leben, alt brauchst du ja nicht zu werden, wir werden ja alle nicht alt; aber noch<br />

musst du leben. Wir hatten freilich bei der Nachricht von Doris beide das gleiche Gefühl, deinen<br />

Brief bekam ich erst viel später. Aber ich meine, es war das Gefühl, als ob sie wie ein Opfer an<br />

deiner Stelle heruntergestiegen wäre. Ein furchtbares Gefühl, aber so kam es mir. Die<br />

Gleichzeitigkeit mit unsern Frankfurter Tageszeiten war es, die uns beide so erschütterte. - Um sie<br />

selbst traure ich weniger als um <strong>Eugen</strong> [meint wohl Emil von Beckerath]. Und ans Leben<br />

klammern sich jetzt meine Hände fest an; so vieles hält mich, der Zusammenbruch um mich wird<br />

mir bald wie einer dieser komischen opernhaften Zusammenbrüche einer Dekoration auf dem<br />

Theater, ich fühle mich kaum mehr beteiligt; mein Hegelbuch, von dem <strong>Eugen</strong> nun recht behält, als<br />

er, nicht im Scherz, sondern im schweren Ernst, 1913 sagte: es wird nie gedruckt, erscheint mir wie<br />

das Lösegeld (ich meine: das Nichtgedrucktwerden des Buchs), mit dem ich mich von dieser meiner<br />

untergehenden Welt loslöse.) Was mir in Zukunft Welt heissen wird - ich weiss es weniger als je.<br />

Aber lebenssatt bin ich nicht; "man wird wieder Wein pflanzen auf den Bergen Samarias" - "man",<br />

wer, weiss ich nicht, aber "man". <strong>Eugen</strong> hat recht, der * reisst mich jetzt über den Abgrund der Zeit<br />

hinüber in das Irgend einer Zukunft. Es ist alles viel "vorgesehener", was wir tun, als wir je

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