Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 13 of 178<br />
ähnlich wie Tolstoi. Und das ist wohl auch seine Grenze. Nämlich dies: dass die Dichter ihren Stoff<br />
nicht erfunden hätten, wenn er nicht schon da wäre. Während die ganz grossen Dichter ihren Inhalt<br />
s'il n'existait pas, inventiert hätten. Wie Dostojewski das Christentum. - Die "Grossmacht" Kirche ist<br />
ganz darin, weit mehr als etwa in Newmans Apologie.<br />
Im Postsack lag dein Brief vom 5ten (neulich machte ich den Sack selber auf, da lagst du gleich<br />
zuoberst!) und hat mir warm gemacht; ich bin voller Antwort.<br />
Ich bin etwas aus der Fassung über die Adresse; ich wusste es doch natürlich, aber ich hatte mich<br />
so daran gewöhnt, dich in Terrasse 1 zu sehn, - ja eigentlich Terrasse 1 zu sehn, dich "sehe" ich ja<br />
nicht; nun sehe ich also weder dich noch dein "Milieu" - ich glaube, wenn ich das merke, so giebt<br />
dies hier einen Brief von der Höhe der Kletterstange, einen der nach Durchschlag schreit. - Und<br />
übrigens, da du mich durch eine Adresse verstörst, gleich die Revanche: bis zum 23. schreib mir "m.<br />
Br. Armeerabbiner d. XI. Armee Dr. Lazarus Dtsche Etappeninspektion XI. Dt.Feldpost 176. Und<br />
am 24. u. 25. ebenfalls "mit Br. Armeerabb. d. XI. Armee Dr. Lazarus, (aber:) Kommandantur<br />
Üsküb". Was wird Frau Picht sagen, wenn sie etwa dir diesen Brief in den Kasten stecken sollte! Ich<br />
aber sage, dass ich dich auch dort schrifthaftig bei mir haben möchte, trotz der Befreiung aus<br />
Egypten, denn du weisst ja - ich schrieb es dir im Sommer einmal: du - und alles Du zwischen<br />
Menschen, die nicht im Du geboren sind - du bist nur der Vorbote der letzten Befreiung, und die<br />
wird nach dem Profeten ein grösseres Wunder sein als die erste. Also komm du zu mir auch in den<br />
Üsküber Tagen.<br />
Mutter ist dir um zwei Posttage voraus; sie schreibt schon vom 6. u. 7., und erst am 7. hat sie<br />
Nachricht von mir, offenbar einen Brief, den ich in der Nacht vom 3. zum 4ten - nein aber am 3.<br />
einwarf, von unterwegs.<br />
Ich schreibe morgen früh weiter. Ich will heut abend noch etwas im Santo lesen.<br />
Felicissima notte -- <strong>Gritli</strong>!<br />
Ich bin mit bösen Gedanken aufgewacht.<br />
14.III.[18]<br />
Wenn ich nun jetzt nach Warschau gekommen wäre, so hätte ich dich noch in Kassel getroffen.<br />
Es ist besser so. Lieber den Gleichtakt der Briefe aus der Ferne, der so nahen Briefe aus der Ferne,<br />
als so ein einzelner Tag.<br />
Frühlingsanfangstag - im Feld hat man andre Jahreszeiten. Voriges Jahr fing der Frühling an an<br />
dem Tag wo ich nach Üsküb ging, obwohl das Wetter nicht anders war wie die ganzen Tage vorher;<br />
aber ich ging, ich war mein eigner Herr, hatte ein paar Tage frei vor mir mit selbst zu findenden<br />
Menschen; der Wachtmeister bei der Protzen hielt mich für übergeschnappt, dass ich nicht auf<br />
unsrerm Fuhrwerk fahren wollte, das grade den gleichen Weg machte, sondern die paar Stunden bis<br />
zur ersten Feldbahn lieber allein mit meinem Rucksack machte. - So ein Frühlingsanfangstag kann<br />
also auch ganz ausbleiben.