Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 111 of 178<br />
"Auditoriengebäude" zu kommen. Und dass es in Berlin eine Gelegenheit geben muss<br />
Weltgeschichte zu hören, muss Althoff direkt durch einen Machtspruch erzwingen. Wobei der<br />
Vergewaltigte den Zweck der Massregel zu 3/4 wieder verdirbt, indem er das Kolleg über 4 Semester<br />
zerrt statt als 1 stündiges Publikum in einem.<br />
Anbei drei leibhaftige Heftchen Steiner (statt Brot). - Schick sie irgendwie, etwa via Helene,<br />
Göttingen Reinholdstr.14, weiter an Rudi. Kantorowicz ist ein Mensch geworden, also riskiere ichs<br />
ein Unmensch zu sein und erkläre: es ist Mist. Aber ich will mich gern zurechtweisen lassen; lies es<br />
also.<br />
Dein Franz.<br />
3.9.18<br />
Liebes <strong>Gritli</strong>, es ist dumm, dass ich mich so in den "15ten" festgerannt hatte; es war aber so<br />
traurig, das Alleinschreiben; ich spürte die Entfernung so; weiss man oder darfs glauben, dass der<br />
andre auch schreibt, so ist gleich die Gleichzeitigkeit da und Zeit und Raum vergessen. Gewiss<br />
kommt es nicht auf Briefe an, so wenig wie auf Worte, aber es ist hier wie bei so vielen Dingen ein<br />
"Doch" dabei: grade weil sie "unvollkommen" und zufällig sind und Stückwerk, und das was man<br />
voneinander im Herzen trägt,"ganz" ist, grade deshalb brauchen wir sie. Das Ganze und<br />
Vollkommene, das was wir von einander in uns tragen, das kann uns kein Tod und keine Macht<br />
rauben, aber die Süsse des Lebens fehlt ihm, die giebt erst das Unvollkommene, das Täglich =<br />
Alltägliche, der Augenblick und Zufall. Ohne das werden wir uns statuarisch und kriegen<br />
Heiligenscheine. Und das soll nicht sein, solange wir leben. Deshalb dürfen wir uns vor dem<br />
"bischen Bewusstsein und Wirklichkeit" nicht drücken und unsrer Armut nicht schämen, sondern<br />
müssen entschlossen unvollkommen und "gelegentlich" sein, damit unsre Liebe nicht paradisisch<br />
wird, sondern lebendig bleibt, solange wir eben leben.<br />
Die Heiligenscheine wachsen sehr leicht; man muss sie sich täglich rasieren - weiter nichts sind<br />
Briefe. Grade weil sie nie so "herrlich" sein können wie das stumme Glück des Einandergehörens -<br />
grade deshalb halten sie einen nicht "hoch", aber lebendig. - Die arme Helene - aber sie kann auch<br />
weinen, wenn man ihr sagt, der Krieg gehöre in die Weltordnung; welche Protestantin könnte das.<br />
Ich habe mich bei der Geschichte wieder darüber betroffen, dass Rudi mir misstraut; sonst spräche er<br />
doch nicht mit Mutter, so dass sie "uns" "verteidigen" müsste. Ich hatte es vergessen, weiss auch<br />
nicht was ich ihm sagen soll. Er steckt auch so schrecklich im Krieg allerschlimmsten Westkalibers<br />
drin, dass es mit Schreiben nicht viel ist. Ich sprach dir einmal in Leipzig davon. Bekümmere dich<br />
aber nicht darüber; das wird auch noch gut werden, wenn ich auch noch nicht sehe wie; aber ich bin<br />
ganz gewiss. Übrigens die Predigten wollen wirklich von Anfang an gelesen sein, bring doch <strong>Eugen</strong><br />
dazu, sag ihm dass die erste Hälfte stark angeregt ist duch Pichts Settlements = Buch. Mit dem<br />
Herausgreifen der einzelnen, obwohl sie als einzelne entstanden sind, jede für sich, tut man dem<br />
Ganzen unrecht. Denn es ist ein Ganzes. Es handelt vom "Vergewaltigen des Himmelreichs" bzw.<br />
vom "So seid nun geduldig", die erste Hälfte steht unter jenem, die zweite unter diesem Zeichen. Es<br />
ist kein sich entwickelndes System wie die Georgsreden, sondern eine sich widerlegende Geschichte;<br />
man darf keine einzige der Predigten ganz dogmatisch nehmen (die Einzelgedanken natürlich wohl,