Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 79 of 178<br />
sehr ich Partei dabei bin, habe ich dabei wieder gespürt. Ach <strong>Gritli</strong> ----- Dein Franz.<br />
29.VI.[18]<br />
Liebes <strong>Gritli</strong>, ein "Glücksfall" ist fast ausgeschlossen. Das andre, dass uns Minuten genügen<br />
würden - ich würde es auch sagen; aber es kommt dazu, dass Mutter (ich merke es genau) die<br />
Vorstellung haben muss, mich "allein" zu haben; und wolltest du dich in Kassel künstlich<br />
verabsentieren, - nein ich möchte keine Wiederholung jener Stunden unter dem gleichen Dach in<br />
getrennten Etagen. Der Notfall ist tatsächlich da.<br />
Nun habe ich freilich vorhin entdeckt dass Brotterode nicht im Harz, sondern im hintersten<br />
Thüringen liegt, eine ganze Tagereise von Berlin. Du armes - und der Wartetag möglicherweise in<br />
Berlin. Aber ich weiss selbst nicht, wie sonst. Ich würde sagen, wir träfen uns in Weimar, aber wer<br />
weiss wieviel Zeit da "ungenutzt" vergeht bis ich da bin, und ob ich über Weimar fahren kann. Von<br />
Berlin aus ist alles am einfachsten. Der Zug mit dem ich wahrscheinlich komme, ist um 12 Mittags<br />
am Bahnhof Friedrichstrasse. O <strong>Gritli</strong>, ich sehne mich nach diesem "12 Uhr Mittags". Hast du dich<br />
nur erst bis da hingelogen, so helfe ich dir weiter, dass du gar nichts mehr davon merkst; ich kann<br />
perfekt lügen, sogar mit einem gewissen phantastischen Spass daran.<br />
Du fragst immer. ob mir leichter ist. Das ist ja grade die Wunde, die nur deine Gegenwart heilen<br />
kann: dass mir nicht leichter wird, wenn es dir leichter wird; es ist ein Band zwischen uns zerrissen,<br />
ich werfe mein herunterhängendes Ende nach dir aus und immer wieder fällt es mir zurück; meine<br />
Liebe ist noch nie so sehnsüchtig verzweifelt gewesen wie in diesen Tagen, wo sie sich nicht wie<br />
zuvor einfach eins, Seele zu Seele, mit dir fühlen konnte, sondern über eine Kluft hinüberlangt. Das<br />
"Dein", unser Eumbolon, bedeutet mir in diesen Tagen nicht "ich bin dir nah", sondern ist ein Schrei<br />
der Sehnsucht, Sehnsucht nach Nähe, nach jener Selbstverständlichkeit, Gleichzeitigkeit, - "bei dir<br />
sein - ". Das Dein besiegelt nicht mehr die Nähe, es muss sie als eine Notbrücke erst schaffen. Ohne<br />
diese Tage wüsste ich nicht, wie sehr ich dich liebe. Ich dachte ich wüsste es, aber ich habe es nicht<br />
gewusst. Ich werde dir wenig von Warschau erzählen können. Ich sitze ja da und schreibe an dich.<br />
Das Herz ist nicht glücklich genug um hier zu sein wo es ist; es schlägt gewaltsam am Rande des<br />
Abgrunds, es möchte hinüber, zu dir, in deine Arme -: Es ist Dein.<br />
Sonntag früh [30.VI.18]<br />
Liebes <strong>Gritli</strong>, plötzlich läuft ein Gerücht um, wir würden schon Sonnabend entlassen. Dann wäre<br />
der "Notfall" (allerdings abgesehn von Mutters Psychologie) ja nicht vorhanden. Auch würdest du,<br />
wenn du erst Donnerstag nach Brott. führest, natürlich unmöglich schon Samstag wieder wegfahren<br />
können. Dagegen eventuell Sonntag mir "nach Eisenach entgegen" und das vielleicht ganz offen (??).<br />
Jedenfalls würde ich dich rechtzeitig Brotterode postlagernd antelegraphieren (spätestens Freitag<br />
oder Sonnabend) und dann Sonntag von Berlin aus über Thüringen weiterfahren, ausser ich fände<br />
von dir ein Telegramm Berlin Bahnhof Friedrichstrasse bahnpostlagernd vor; sonst gucke ich also<br />
von Naumburg oder Halle ab aus allen Stationen heraus, ob du da bist.<br />
Leider ist das ganze aber nur ein Gerücht, fürchte ich; dann bleibt es beim "Notfall".