Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy
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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 123 of 178<br />
Ich musste dir etwas von all diesem schreiben, auch wenn es nur wenig und nur gestammelt ist.<br />
Behalt es für dich. Ich bin deinem Herzen nah und du meinem. Liebe, liebe ----- Dein - Dein -<br />
Belgrad 30.9.[18]<br />
Liebes <strong>Gritli</strong>, die Feder will noch gar nicht wieder, so lange habe ich dir nicht geschrieben; das<br />
letzte Mal am 20ten aus der Stellung einen kurzen Brief an dich, und einen langen an <strong>Eugen</strong>, die sind<br />
wohl schwerlich noch durchgekommen. Es war eine ziemliche Hetze, die Nächte immer irgendwie<br />
unterwegs; erst in Nisch hatte ich das Gefühl aus der Mausefalle herauszusein. Jetzt hier in Belgrad<br />
werde ich wohl ein paar Tage bleiben, obwohl es ein recht mässiges Lazarett ist selbst für meine<br />
bescheidenen Ansprüche; aber zum "holt a bissel ausrasten" - um mit dem Arzt zu reden - genügts.<br />
Aber geschoren haben sie mich gestern und das "wüste Gesicht" ist ohne den Ausgleich der "schönen<br />
Haare" - ich finde es übrigens gar nicht übel so. - Mir ist übrigens bei der Flucht auch etwas verloren<br />
gegangen, wenigstens kommts mir bisher so vor: der Mut zum * der Erlösung. Was ich geschrieben<br />
habe gefällt mir nicht, und das Weiterschreiben womit ich vorgestern so sachte wieder anfing,<br />
geschieht ohne rechte Zuversicht. Das Gefühl der Unerschöpflichkeit ist ganz verschwunden.<br />
Schade. Aber vielleicht kommt es wieder. Jedenfalls schreibe ich zunüchst langsam weiter mit oder<br />
ohne Stimmung einerlei, deshalb z.T. mache ich ja diese Lazaretttage, ehe ich wieder zur Truppe<br />
gehe. - Politisch ist mir das alles doch auch sehr auf die Nerven gefallen. Wenn ein Generalstäbler an<br />
Nemesis glaubte, so müsste es Ludendorf jetzt. Dass der Krieg im Westen entschieden wird, hat sich<br />
ja nun so weit bewahrheitet wie es sich bewahrheiten kann: verloren werden kann er allerdings im<br />
Westen. Ohne das Prestigespiel der Westoffensive wäre es hier unten nicht soweit gekommen wie es<br />
gekommen ist. Ich glaube vorläufig nicht sehr fest an eine Wiederherstellung der Lage hier. Die<br />
Stimmung unsrer Mannschaften ist so defaitistisch wie möglich; alles freut sich über jeden<br />
Misserfolg; der Staat existiert nur in der dritten Person - "die da". Aber Revolution giebt es trotzdem<br />
nicht; dazu gehörte - Mut.<br />
Der gehört also zum Revolutionmachen und zum Systemschreiben und ich habe keinen Grund<br />
"den Deutschen" etwas vorzuwerfen. Übrigens würde ich noch nicht mal Revolution wünschen,<br />
wenigstens von mir privat aus, aber das versteht sich ja. Es ist bald 4 Wochen her, dass du bei Ranke<br />
die Stelle über den Widerstand aus den Tiefen des europäischen Lebens, der sich gegen jedes<br />
einseitige Prinzip erhebt, fandest. Aber Ranke hängt mit solchen Allgemeinheiten meist ganz in den<br />
Eindrücken von 1789 - 1815; da war es so. Der Weltkrieg ist aber viel komplizierter, nicht ein<br />
"Prinzip" wie damals, sondern viele Prizipien; Deutschland spielt gar nicht die grosse Rolle<br />
"Napoleons", die ihm die Engländer zuschreiben (und unsre klugen Sozialdemokraten à la Leusch,<br />
"Weltkrieg = Weltrevolution", auch). Selbst wenn die Entente jetzt siegen sollte, so wäre damit<br />
weder nur Deutschland besiegt noch nur England Sieger. Es giebt in diesem Krieg nicht "weder<br />
Sieger noch Besiegte", sondern jeder ist Sieger u. Besiegter. Denk an Russland! da versagen alle<br />
Rankeschen Geschichtsformeln. - Aber übrigens - ich wollt es wär erst Schlafenszeit, <strong>Gritli</strong>, und<br />
alles gut. Ich darf Falstaff zitieren. Hier im Lazarett bin ich sein Kamerad. Grüss <strong>Eugen</strong>.<br />
Dein Franz.