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Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy

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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 27 of 178<br />

Ich hatte das Gefühl, als müsste das so wie ich jeder erleben; es giebt doch Augenblicke wo man die<br />

"Menschheit" unmittelbar spürt, ohne Zwischenin-stanzen. Und zwischen dem Juden und andern<br />

Völkern besteht ja keine Arbeitsteilung wie zwischen den Völkern untereinander, sondern er ist bloss<br />

der Vorläufer der Menschheit. Wenn wir Israel sagen, ganz Israel, so meinen wir die Zukunft aller.<br />

Wir werden einmal alle in Gott wissen, dass wir Menschenkinder blutsverwandt sind.<br />

"Menschenkind" ist in allen Sprachen, wo man es sagt, ein Hebraismus. Das Heidentum bringt es nur<br />

bis zum genus humanum, allerhöchstens. Ein genus humanum wie es ein genus aller andern Tiere<br />

giebt; warum auch nicht? den filius hominis kennt erst die Vulgata. - Etwas andres: der Jude spricht<br />

von einem "jüdischen Herz" und meint, er habe es allein. Das hängt nicht bloss damit zusammen,<br />

dass er nun einmal die "christliche Liebe" im Laufe der Jahrhunderte immer nur unter der jeweils<br />

zeitgemässen Form des Scheiterhaufens kennen gelern hat; sondern es hat einen wirklichen Grund.<br />

Die christliche Liebe ist Überquellen des eigenen Reichtums oder auch sehnsüchtiges Überfliessen<br />

der eigenen Armut, in jedem Fall Überfliessen, Überquellen - der andre wird, durch die Liebe, zum<br />

Nächsten, er wird zum Nächsten. Sie ist nicht Mitleid, sondern Sehnsucht, Sehnsucht aus Fülle oder<br />

aus Armut, immer Sehnsucht. Das "jüdische Herz" ist gar nicht Sehnsucht, ist nur Mitleid. Mit =<br />

Leid. Es leidet selbst und weiss wie dem andern zu Mute ist, es war Knecht und Fremdling in<br />

Ägyptenland und ist es noch immer geblieben, und so "kennt es das Herz" des Knechts und des<br />

Fremden (du weisst wohl die Stellen). Der andre ist ihm Nächster, wird es nicht erst. Ich will hier,<br />

von aussen gesehen, ja keinem den Vorzug geben, nicht der schöpferischen des Christen und nicht<br />

der heimisch beim Nächsten wohnenden des Juden (von aussen nicht, von drinnen tuts ja jeder und<br />

spricht mit Cohen im Januar, als er mir eben entsetzt über Platons und Dantes Tartaros bzw. Inferno<br />

und die Grausamkeit dieser Strafphantasie sprach, plötzlich aufseufzend: "Was ist der Mensch! -<br />

wenn er kein Jid ist") (bzw. eurerseits umgekehrt). Aber das wird ja grade "von aussen" deutlich,<br />

dass das "jüdische Herz" so fühlt wie die "christliche Liebe" fühlen würde, wenn sie am Ziele ihres<br />

Weltlaufs wäre. Sie braucht nicht zu fürchten, dann nichts mehr zu lieben zu haben; wenn sie sich<br />

alles Fremde zum Nächsten umgeschaffen hat, kann sie in ihm wohnen wie - das jüdische Herz. Die<br />

Sehnsucht ist dann Mitgefühl geworden. Auch hier wieder: Alles nur Jüdische ist nur solange nur<br />

jüdisch als es nur jüdisch ist.<br />

"Ich will euch wiedersehn" - wir sprachen im Februar mal darüber, dass, da Brahms<br />

offenbar keinen andern Spruch gefunden hat, es wohl auch keinen anden giebt. Und dass dieser eine<br />

ja grade nicht sagt, was man möchte. Denn es sagts nicht ein Mensch zum andern, sondern Christus<br />

zu den Seinen. Die Menschen wollen aber grade einer den andern wiedersehn und haben an dem<br />

Schauen Gottes x) nicht genug - im Grunde eben doch, weil sie nicht genug daran glauben. Das<br />

Verlangen nach Wiedersehn ist eben offenbar nicht christlich, sondern ein Stück schwer<br />

auszujätendens Heidentum, das Christ und Jude ja immer noch und immer wieder in sich tragen. Ich<br />

habe dir ja inzwischen genauer geschrieben, wie ich mir das wirkliche Wiedersehn der Seelen in Gott<br />

denke. "Götzendiener waren unsre Väter" sagen sogar wir, obwohl es doch lange her ist, in unsrer<br />

Oster = Agende (der "Hagada", dem Büchelchen mit den vielen Bildern, das ich dir zeigte). Das<br />

Heidentum, der Aberglaube mischt sich immer wieder mit dem Glauben nnd von Zeit zu Zeit<br />

wenigstens muss man mal mit der Schere hineinfahren; ganz kriegt man ihn nie heraus, und es ist<br />

auch nicht nötig, solange er den Glauben nicht überwuchert.

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