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Gritli Letters - 1918 - Eugen Rosenstock-Huessy

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<strong>Gritli</strong> <strong>Letters</strong> - <strong>1918</strong> 53 of 178<br />

Leben beginnt, aber das Bild zu dem andern ist der wirkliche Tod der Eltern vor den Kindern.<br />

10.V.[18]<br />

Liebes <strong>Gritli</strong>, inzwischen hat sich also Warschau entschieden, was für mich ja etwas eine<br />

Vertreibung aus dem Paradise bedeutet. Von Warschau selbst verspreche ich mir allerdings allerlei,<br />

ich meine von der Stadt. - Ich lege dir den, sehr guten, Artikel deines neusten Korrespondenten bei.<br />

In den Verdacht der Geistigkeit kommt man ja als Frauensperson sehr leicht, man braucht bloss stille<br />

zu halten und nichts zu antworten. Mir schreibt er, dass er mit <strong>Eugen</strong> ins Schreiben gekommen ist.<br />

Aber <strong>Eugen</strong> scheint wieder bös zu fechten. Mein Schreiben mit Hans kommt ins Breite, ohne mich<br />

wirklich zu interessieren. Äusserlich ist eine gewisse Parallele zum Anfang des 1916er Briefbuchs.<br />

Ich musste ihn nämlich auch zuerst einmal von der Vorstellung abbringen, dass er als gewesener<br />

Jude eine Mittelstellung einnimmt. Im übrigen ist aber die theoretische Übereinstimmung von<br />

vorneherein überraschend, wo wir doch gar keine Berührung hatten; nur macht mich das in diesem<br />

Fall weder warm noch kalt - ich weiss nicht woran es liegt.<br />

Grad neulich merkte ich, dass du den David Copperfield noch nicht kennst, und nun liest du ihn<br />

schon. Mir hat ihn Mutter wohl etwa als Zwölfjährigem vorgelesen und ein paar Jahre später las ich<br />

ihn nochmal. Es ist wohl, wenn ich jetzt überlege, von grösstem Einfluss auf mich gewesen; mir ist<br />

wohl daran der Sinn für das eigene Schicksal geweckt, den ich sehr früh und sehr stark hatte, so<br />

stark, dass ich ihn eigentlich später wieder zeitweise verlieren musste, um leben zu können. Ich wäre<br />

selbst jetzt weit weniger fähig, meine Selbstbiographie zu schreiben, als etwa mit 15 oder 16 Jahren.<br />

Wieder die Kombination H.U. - Greda - , ich kann sie mir nicht vorstellen. Greda kann doch<br />

diesen Missbrauch des Verstandes höchstens treiben, H.U. ist darauf angewiesen, er hat nichts<br />

andres, ist nichts andres.<br />

"Der preussische Staat" ist vielleicht bei mir, es schwebt mir so etwas vor. Auch Hans E.<br />

hatte ihn mit.<br />

Du schreibst vom Marienaltar in Saig am 1.Mai. Was Mai ist, habe ich auch erst im Süden<br />

erfahren. Oder wenigstens einen ganz andern Mai. Wenn in Freiburg am Münster jeden Abend die<br />

Maiandacht war und das ganze Münster voller Frauen, nur Frauen und diese ganz eigenen Lieder die<br />

man sonst das ganze Jahr nie hörte. Noch mehr beinah, als ich an einem ersten Mai von Florenz nach<br />

Bologna über die Alpen ging. Oben auf der Kammhöhe war am Spätnachmittag ein starkes Gewitter<br />

gewesen und nun ging ich in den Abend hinein auf einer der Rippen die von dem grossen Rückrat zu<br />

Tale ziehen zwischen zwei tiefeingeschnittenen Tälern, mit weitem Blick in das klargeregnete Land.<br />

Ein kleiner Junge trabte neben mir her auf der Chaussee und wie es dunkel wurde fingen im Tal die<br />

Glocken an, ich fragte ihn was wäre, da sagte er etwas von Madonna di Maggio - die Maimadonna.<br />

Im Protestantismus ist auch der Mai darauf angewiesen, dass Menschen kommen die der Sinn in die<br />

weite weite Welt hinaus treibt und denen die Natur so herrlich leuchtet - und hat keine Madonna für<br />

sich.<br />

Ich lege dir etwas für <strong>Eugen</strong> bei, eine kleine Revanche für sein Bethmann-geschenk im<br />

Dezember. Die "wir" vom Generalstab mit der kühlen Scheu vor dem grossen Wort, aus dem sie

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