Nohr_Natürlichkeit_Onlineversion
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zu befreien. Aber schon der von Kafka entworfene (und biografisch gelebte)<br />
Versicherungsangestellte scheint am Beginn der Moderne im monotonen<br />
Kratzen der Feder auf dem Papier und dem Gleichklang der mechanischen Rechenmaschinen<br />
des Großraumbüros etwas vorwegzunehmen, was sich in der<br />
neoliberalen Arbeit¯112 vollendet: der überformte Metasound als Selbstdisziplinierung<br />
und die Überführung des Arbeitsrhythmus von der Arbeit in die<br />
Freizeit. Denn dass diese ›Neudefinition‹ des Psychotechnischen eine Art ›ästhetischen‹<br />
Überschuss erzeugt, zeigt sich nicht nur bei Kracauers Gedanken<br />
zum Ornament, es ist in deutlicher Weise im neusachlichen Schreiben zu entdecken,<br />
wenn die Disziplinierung des Rhythmus nicht nur in der Schreibmaschinenarbeit<br />
des titelgebenden Tippmädchens Gilgi thematisiert wird, sondern<br />
zugleich auch zum Formprinzip der Autorin Irmgard Keun selbst wird:<br />
»Tick-tick-tick – rrrrrrrr – bezugnehmend auf Ihr Schreiben vom 18. des … tick-tick-tick – rrrrrrrr…<br />
einliegend überreichen wir Ihnen… tick-tick-tick … im Anschluß an unser gestriges Telefongespräch<br />
teilen wir Ihnen mit… Die Stenotypistin Gilgi schreibt den neunten Brief für die Firma<br />
Reuter & Weber, Strumpfwaren und Trikotagen en gros. Sie schreibt schnell, sauber und fehlerfrei.<br />
Ihre braunen, kleinen Hände mit den braven kurznäglig getippten Zeigefingern gehören zu<br />
der Maschine, und die Maschine gehört zu ihnen«.¯113<br />
Aus dem ›rhythmus-disziplinierten‹ Körper des Arbeiters formt sich das ›Management<br />
des Selbst‹ wie es vielleicht am frühesten noch James Burnham 1941<br />
mit seinem Buch »The Managerial Revolution« kritisch reflektiert. Die (repressive)<br />
Form der externen Steuerung durch Rhythmisierung geht über in eine<br />
(selbstdisziplinatorische) Form des internalisierten self-managements.<br />
»Schließlich wurden im Falle des humanen Faktors, des arbeitenden Körpers, beide Funktionen<br />
auf diesen selbst übertragen, und zwar in zwei Schritten: Auf eine hierarchische Disziplinierung<br />
in der Gruppe folgte die individuelle Selbstdisziplinierung. Bezüglich ihrer Effekte fielen<br />
Beobachtung und Normierung auseinander. Ersterer ging es darum, ihre in einer anonymen und<br />
amorphen Anhäufung gegebenen Gegenstände zu differenzieren und zu individuieren. Letztere<br />
aber applizierte auf die nunmehr identifizierten Gegenstände die Verfahren der Selektion, der<br />
Allokation und der Homogenisierung, der Reduktion aller Varianten auf den one best way, der<br />
allerdings unendlich optimierbar blieb« (Novak 2000, 132).<br />
Eine ›Spur‹, die dieser Diskurs zeichnet, ist die der Schrift bzw. des Schreibens<br />
als produktiver Arbeit. Das Schreiben (oder ›Aufschreiben‹) als ökonomische<br />
und produktive Tätigkeit gewinnt an dem Ort an Bedeutung, an dem die körperliche<br />
Arbeit und ihre Rhythmisierung zurücktritt. Gleichzeitig scheint genau<br />
am Ort der Schrift eine Disziplinierung einzusetzen, die strukturell und<br />
funktional der Organisation der körperlichen Arbeit analog erscheint: eine<br />
Schreib-Maschine<br />
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