"25 Jahre Psychiatrie-Enquete" Teil II - Aktion Psychisch Kranke e.V.
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Gerd Glaeske<br />
matischer und psychiatrischer Erkrankungen mit Psychopharmaka,<br />
Hypnotika und Sedativa, die 1999 52 Millionen mal verordnet<br />
wurden, Kosten für die gesetzliche <strong>Kranke</strong>nversicherung<br />
2,18 Mrd. DM (14). Benzodiazepin-Derivate sind – kurzfristig<br />
verordnet – nach wie vor Mittel der Wahl als Hypnotika, Muskelrelaxantien<br />
oder als Medikamente bei Angst- und Spannungszuständen.<br />
In diesen Anwendungsbereichen ist ihr Nutzen seit<br />
langen <strong>Jahre</strong>n bestätigt. Ebenfalls seit vielen <strong>Jahre</strong>n wird aber<br />
das Therapierisiko der Abhängigkeitsentwicklung im Sinne einer<br />
Low-Dose-Dependency beschrieben, das dann beobachtet<br />
werden kann, wenn Ärztinnen und Ärzte Benzodiazepin-Derivate<br />
über Zeiträume von mehr als zwei bis drei Monate verordnen,<br />
zumal in Anwendungsgebieten wie Alltagsbelastungen,<br />
psychovegetative Syndrome und Stress. Weder hierfür noch für<br />
die Unterhaltung einer bestehenden Abhängigkeit sind Benzodiazepin-Derivate<br />
zugelassen. In einer Untersuchung auf der Basis<br />
von <strong>Kranke</strong>nkassendaten konnte festgestellt werden, dass ca.<br />
1,2 Millionen Patientinnen und Patienten diese Mittel kontinuierlich<br />
bekommen und an einer iatrogen induzierten Abhängigkeit<br />
leiden. Die fortgesetzte Verordnung dieser Mittel dient dann<br />
auch als Entzugsvermeidungsstrategie, da beim Absetzen der<br />
Mittel erhebliche Absetz- und Entzugssymptome (niedriger<br />
Blutdruck, Schwindel, Unruhe, Aggressivität, manchmal Psychosen)<br />
zu erwarten sind. Auffällig waren auch die Verordnungscharakteristika<br />
der Ärztinnen und Ärzte: Auf nur 8,7 %<br />
aller niedergelassenen oder 14,3 % der Benzodiazepin-verordnenden<br />
Ärztinnen und Ärzte, vor allem Praktikerinnen/Praktiker<br />
und Internistinnen/Internisten, entfielen bereits 46,3 % aller<br />
verordneten Tagesdosierungen für mehr als die Hälfte der<br />
hochversorgten Gruppe. Es kristallisiert sich damit eine kleine<br />
Gruppe von Ärztinnen und Ärzte heraus, die auffällig häufig und<br />
langfristig Benzodiazepin-Derivate an eine stabil anhängliche<br />
oder auch schon abhängige Patientinnenkientel verordnet (»Benzodiazepin-Schwerpunktpraxen«).<br />
Eine solche Verordnungsweise<br />
zeigt auch ein eingeschränktes Therapierepertoire der verordnenden<br />
Ärztinnen und Ärzte, die eine schnell rezeptierte Bewältigungsform<br />
als adäquate Lösung für Patientinnenprobleme<br />
empfindet und die Auffälligkeit einer wahrscheinlich mangelhaften<br />
Dokumentation, die nicht ausreichend auf das Überschrei-<br />
Gesundheitssystem heute – Angebotsorientierte<br />
Marktwirtschaft oder bedarfsorientierte Steuerung?<br />
214 215<br />
ten der indizierten Anwendungszeit aufmerksam macht. Auch<br />
die Indikation und das Therapieziel scheinen unklar definiert,<br />
wenn etwa 3/4 aller Diagnosen, die als Begründung für die Anwendung<br />
von Benzodiazepinen dokumentiert sind, als nicht<br />
rational bezeichnet werden können. Zwei Drittel der Langzeitpatientinnen<br />
und -patienten sind weiblich, der größte Anteil älter<br />
als 60 <strong>Jahre</strong>. Die sonstigen unerwünschten Wirkungen, die mit<br />
einer solchen Dauerverordnung gerade für ältere Menschen<br />
verbunden sind (Gangunsicherheit, Reaktionsbeeinträchtigung,<br />
dadurch häufig Unfälle und Stürze mit Knochenbrüchen) zeigen,<br />
wie sich der potenzielle Nutzen von sinnvollen Arzneimitteln<br />
in sein Gegenteil verkehren kann, wenn die Verordnungsqualität<br />
durch den Ärztin bzw. die Arzt nicht ausreichend<br />
berücksichtigt wird.<br />
Noch immer entfallen 30 % aller verordneten Hypnotika auf Benzodiazepin-Derivate<br />
mit langer Wirkdauer, wie z.B. Flunitrazepam (u.a.<br />
in Rohypnol), Nitrazepam (u.a. in Radedorm) oder Flurazepam (u.a.<br />
in Dalmadorm). Gerade bei diesen Mittel sind die Hang-Over-Effekte<br />
am Morgen nach der Einnahme als Schlafmittel und das Risiko<br />
für Stürze besonders hoch. Auf solche Mittel mit hohen Risiken<br />
für ältere Menschen, insbesondere für ältere Frauen, bezieht sich<br />
die Bewertung dieser Verordnungen als »chemische Gewalt gegen<br />
älteren Menschen«.<br />
Leitlinien als Schutz vor marktwirtschaftlichen Übergriffen<br />
Sind all diese Hinweise Beispiele für eine bedarfsgerechte Steuerung<br />
der Versorgung? Sicherlich nicht – sie sind eher Ausdruck eines eher<br />
unkritischen und z.T. unreflektierten Umgangs mit den angebotenen<br />
Möglichkeiten der medizinischen Versorgung, die auf eine dringend<br />
verbesserungsbedürftige medizinische Kompetenz der Ärztinnen und<br />
Ärzte hindeuten und auf eine veränderte Honorarstruktur, die nicht<br />
mehr nur Leistungen an sich honoriert, sondern die Qualität und<br />
Notwendigkeit der medizinischer Versorgung als Parameter mit berücksichtigt.<br />
Wenn schon angebotsorientierte Marktwirtschaft, dann<br />
sollte die sich auf den Wettbewerb von Versorgungsqualität und medizinischen<br />
Kompetenz der Leistungsanbieter beziehen und sich in<br />
einer ergebnisorientierten Honorierung widerspiegeln, in der die