"25 Jahre Psychiatrie-Enquete" Teil II - Aktion Psychisch Kranke e.V.
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Lorenzo Burti<br />
bewegung, wurden einige nennenswerte Änderungsvorschläge im<br />
Parlament verabschiedet.<br />
Die Enthospitalisierungsbewegung wurde von Franco Basaglia,<br />
einem brillanten Psychiater mit phänomenologischer Ausrichtung<br />
angeführt. Er und seine Kolleginnen und Kollegen übernahmen<br />
1961 das Landeskrankenhaus von Gorizia (Görz), einer Kleinstadt<br />
im Nordosten Italiens, und sie haben das <strong>Kranke</strong>nhaus in den darauf<br />
folgenden <strong>Jahre</strong>n komplett umgestaltet. Alle Stationen wurden<br />
nach und nach geöffnet und den Patientinnen und Patienten wurde<br />
es erlaubt, sich frei innerhalb des <strong>Kranke</strong>nhauses und in der Stadt<br />
zu bewegen. Elektrokrampftherapie, Wegsperren und Zwangsmaßnahmen<br />
wurden verbannt und ein Enthospitalisierungsprogramm<br />
eingeführt. Das modellhafte Experiment von Gorizia wurde in der<br />
Folge in anderen Städten nachgeahmt, es wurde zum Modell für die<br />
italienische <strong>Psychiatrie</strong>-Reform von 1978 und für das gemeindepsychiatrische<br />
Versorgungssystem.<br />
Diese Bewegung konnte durch ihren Einsatz für die psychisch<br />
kranken Patientinnen und Patienten eine große Zahl von psychiatrischen<br />
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, progressiven Intellektuellen<br />
und die breite Öffentlichkeit gewinnen, zudem erhielt sie politische<br />
Unterstützung vor allem von den linken Parteien. 1977 startete<br />
die Radikale Partei (Partito Radicale), bekannt dafür, Volksentscheide<br />
über liberale Reformen einzubringen, eine Kampagne für ein Referendum<br />
zur Aufhebung des <strong>Psychiatrie</strong>gesetzes von 1904. Mit Blick<br />
auf die im Sommer 1978 anstehenden Wahlen drängte die Regierung<br />
eine von Basaglias Arbeiten angeregte Kommission, ein neues Gesetz<br />
zu formulieren, das am 13. Mai 1978 als Gesetz Nr. 180 verabschiedet<br />
wurde. Es beinhaltete folgende zentrale Punkte:<br />
� Verbot aller Aufnahmen in psychiatrische <strong>Kranke</strong>nhäuser, auch<br />
von Wiederaufnahmen; allerdings wurden die in diesen <strong>Kranke</strong>nhäusern<br />
lebenden psychiatrischen Patientinnen und Patienten<br />
nicht mit Zwang in die Gemeinden entlassen, von daher lag<br />
die Intention eher in der Vermeidung von Hospitalisierungen als<br />
in der forcierten Enthospitalisierung;<br />
� Aufbau gemeindepsychiatrischer Angebote, verantwortlich für<br />
das komplette Spektrum psychiatrischer Maßnahmen;<br />
� Anordnung freiwilliger und unfreiwilliger Hospitalisierung nur<br />
in Notfallsituationen, wenn gemeindepsychiatrische Alternativen<br />
ausgetestet und nicht erfolgreich waren. Aufnahmen finden<br />
Die italienische <strong>Psychiatrie</strong>-Reform über 20 <strong>Jahre</strong> später<br />
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nur noch in kleinen Abteilungen (nicht mehr als 15 Betten) in<br />
Allgemeinkrankenhäusern statt. Die Organisation von stationären<br />
und extramuralen Angeboten in den Regionen muss umfassende<br />
Maßnahmen für die Prävention und Rehabilitation<br />
psychiatrischer Störungen – neben der Versorgung psychischer<br />
Krankheiten – bereitstellen.<br />
Die italienische Reform war dahingehend einmalig, dass die neuen<br />
Dienste als Ersatz und nicht als komplementär oder zusätzlich zum<br />
psychiatrischen <strong>Kranke</strong>nhaus konzipiert wurden. Dieser Punkt ist<br />
wichtig, wenn man die Bedeutung des psychiatrischen <strong>Kranke</strong>nhauses<br />
für die Entstehung sekundärer Behinderung und Handikaps in<br />
Form von Hospitalismus berücksichtigt. Es ist bekannt, dass dort,<br />
wo neue Versorgungsdienste nur dem existierenden System hinzugefügt<br />
wurden, eine Institutionalisierung schwer erkrankter Patientinnen<br />
und Patienten in psychiatrischen <strong>Kranke</strong>nhäusern nicht verhindert<br />
werden konnte, da die neuen Dienste letztlich andere,<br />
weniger gestörte Gruppen psychiatrischer Patientinnen und Patienten<br />
aufnahmen.<br />
In einem anderen Sinne ist die italienische Reform im internationalen<br />
Kontext nicht einmalig, da Enthospitalisierung und die<br />
gegenwärtige Verbreitung gemeindebasierter Dienste einen grundlegenden<br />
Prozess in allen entwickelten Ländern darstellt. Jedoch war<br />
sie – und ist es zum großen <strong>Teil</strong> immer noch – durch die verordnete<br />
Schließung der psychiatrischen <strong>Kranke</strong>nhäuser die radikalste Reform.<br />
Für ihre konsequente Einführung der Prinzipen gemeindepsychiatrischer<br />
Versorgung wurde die italienische Reform mit unterschiedlichen<br />
Reaktionen bedacht: von offenem Enthusiasmus,<br />
über Herablassungen (»hier ist ein Land, das der Enthospitalisierungsbewegung<br />
hinterher hinkt«), bis hin zu giftiger Opposition (»das<br />
italienische ›Experiment‹ ist faktisch ein Desaster«).<br />
Die Umsetzung der Reform erfolgte landesweit deutlich ungleichmäßig,<br />
zumindest für einige <strong>Jahre</strong>, da die regionalen Regierungen<br />
ihrerseits Gesetze erlassen mussten und öffentliche Gelder<br />
in einem schon von vornherein finanziell spärlich ausgestatteten<br />
Gesundheitswesen aufzubringen waren. Von einem großen Gefälle<br />
in der Quantität und Qualität der Versorgungseinrichtungen zwischen<br />
Nord- und Süditalien wurde längere Zeit berichtet und als<br />
Beleg für das vermeintliche Scheitern der Reform angeführt. Aller-