"25 Jahre Psychiatrie-Enquete" Teil II - Aktion Psychisch Kranke e.V.
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Wulf Rössler<br />
Somit sind wir in diesem Band mit einer faszinierenden und auch<br />
stimulierenden Vielfalt verschiedenster Versorgungsansätze konfrontiert.<br />
Allerdings stellt sich auch die Frage, inwieweit diese Beschreibungen<br />
eine gemeinsame Plattform für eine europäische Perspektive<br />
psychiatrischer Reformansätze bieten können.<br />
Gesundheitszustand und sozioökonomische Lage<br />
Wenn wir in einem ersten Zugriff verschiedene europäische Länder<br />
miteinander vergleichen, sollten wir zunächst einmal die ökonomische<br />
und soziale Entwicklung dieser Länder betrachten. Vor welchem<br />
wirtschaftlichen Hintergrund Gesundheitsversorgung in den verschiedenen<br />
Ländern jeweils betrieben wird, wird unmittelbar deutlich,<br />
wenn wir uns das Bruttosozialprodukt pro Einwohnerin und<br />
Einwohner betrachten. So beträgt das schwedische Bruttosozialprodukt<br />
23.750 USD pro Einwohnerin/Einwohner und übersteigt damit<br />
das russische Bruttosozialprodukt mit 2.240 USD pro EinwohnerIn/Einwohner<br />
um mehr als das Zehnfache (2–4).<br />
Die Folgen davon sind zweifach:<br />
Zum einen stehen den reichen Ländern ungleich mehr Ressourcen<br />
zur Verfügung, die in die Gesundheitsversorgung investiert werden<br />
können. Zum anderen wirkt sich die Verknappung der Ressourcen<br />
auf die jeweilige Ressourcenallokation in verschiedene Bereiche<br />
aus, d.h. vordringlicheren Gesundheitsproblemen werden ungleich<br />
mehr Ressourcen zugeteilt als dies für vermeintlich oder tatsächlich<br />
weniger dringliche Gesundheitsprobleme gilt.<br />
Für die psychiatrische Versorgung heißt das, dass ihre gesundheitspolitische<br />
Bedeutung im nationalen Kontext daran gemessen<br />
werden kann, ob sie im Vergleich zu anderen medizinischen Disziplinen<br />
einen entsprechenden Anteil ihrer gesundheitspolitischen Bedeutung<br />
erhält.<br />
Armut und schwierige sozioökonomische Lebensbedingungen<br />
generieren zum <strong>Teil</strong> andere Gesundheitsprobleme als dies für kapitalstarke<br />
Industrieländer gilt. In armen Ländern ist die Säuglings- und<br />
Kindersterblichkeit deutlich höher und die Lebenserwartung der<br />
Bevölkerung deutlich geringer als in reichen Ländern. Auf den ersten<br />
Blick hat die Lebenserwartung oder die Kinder- und Säuglingssterblichkeit<br />
nichts mit der psychiatrischen Versorgung zu tun. Einige<br />
Implikationen müssen allerdings hervorgehoben werden. So<br />
Wertebestimmte Gesundheitsversorgung – eine Plattform<br />
für eine gesamteuropäische Gesundheitspolitik<br />
356 357<br />
hängt die Häufigkeit psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung<br />
nicht unerheblich von dem Mortalitätsrisiko der Bevölkerung ab.<br />
Durch die Kinder- und Säuglingssterblichkeit wird die Zahl von<br />
Hochrisikokindern mit Geburtskomplikationen, die Risikofaktoren<br />
für die Entwicklung psychischer Störungen darstellen können, vermindert.<br />
Eine verkürzte Lebenserwartung andererseits kann deutlich<br />
auf die Zahl dementer Personen in der Bevölkerung Einfluss<br />
nehmen, da das Risiko an Demenz zu erkranken, mit steigendem<br />
Alter exponentiell zunimmt.<br />
Allerdings sollte auch hervorgehoben werden, dass es für die<br />
Bewohnerinnen und Bewohner reicher Industrieländer spezifische<br />
Gesundheitsrisiken gibt. Hohe Arbeitsanforderungen und der Zerfall<br />
natürlicher Unterstützungssysteme erschweren die Lebensgestaltung<br />
und -bewältigung erheblich, insbesondere auch im Falle<br />
psychischer Erkrankungen. Dies gilt nicht nur für weniger einschränkende<br />
psychische Störungen, sondern auch für schwere Erkrankungen<br />
wie die Schizophrenie, deren Verlauf in Entwicklungsländern<br />
bekanntermassen günstiger ist.<br />
Politische Entscheidungsprozesse und Einflussnahme<br />
durch Interessengruppen<br />
Erhöhte Sterblichkeitsraten im Säuglings- und Kindesalter und reduzierte<br />
Lebenserwartung sind Indikatoren für schwierige Lebensund<br />
Umweltbedingungen. Der sozioökonomische, gesellschaftliche<br />
und demographische Wandel in verschiedenen Gesellschaften ist der<br />
wichtigste Einflussfaktor auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung.<br />
Der Gesundheitszustand einer Bevölkerung ist aber mehr als<br />
die Summe von Risikofaktoren ihrer einzelnen Mitglieder. Der Gesundheitszustand<br />
einer Bevölkerung ist ein kollektives Charakteristikum,<br />
das die Sozialgeschichte eines Volkes in ihrem jeweiligen<br />
kulturellen, materiellen und ökologischen Rahmen repräsentiert (5).<br />
Wie nun die (stets zu knappen) Mittel für die Gesundheitsversorgung<br />
verteilt werden können, wird durch die öffentliche Meinung<br />
als auch durch ihre Interessenvertreter wesentlich beeinflusst.<br />
<strong>Psychisch</strong> <strong>Kranke</strong> sind nicht selten auf Grund ihrer Erkrankung in<br />
ihren Ausdrucksmöglichkeiten eingeschränkt. Ihre Leiden sind in<br />
der Regel nicht sichtbar und erscheinen auf den ersten Blick weniger<br />
dramatisch als viele andere Gesundheitsprobleme. Um die Be-