"25 Jahre Psychiatrie-Enquete" Teil II - Aktion Psychisch Kranke e.V.
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Wulf Rössler<br />
deutung psychischer Störungen in der Bevölkerung besser kommunizieren<br />
zu können, braucht es einen Paradigmenwechsel, d.h. dass<br />
wir uns weniger damit beschäftigen sollten, wie Menschen sterben<br />
als damit, wie Menschen leben (1). Wenn uns dieser Paradigmenwechsel<br />
gelingen sollte, wird die psychische Gesundheit in den politischen<br />
Entscheidungsprozessen an Bedeutung gewinnen können.<br />
Ein Raster zur Erfassung der Leistungsfähigkeit<br />
von Gesundheitssystemen<br />
Dies ist der Titel einer kürzlich publizierten Arbeit von MURRAY (6).<br />
In dieser Arbeit wird ein Raster entworfen, um die Funktionstüchtigkeit<br />
von Versorgungssystemen besser beurteilen zu können. Das<br />
Raster beinhaltet im Wesentlichen drei fundamentale Zielsetzungen<br />
von Versorgungssystemen.<br />
Dabei geht es um<br />
(1) die Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung,<br />
(2) die Sensibilität und Reaktivität des Systems im Hinblick auf die<br />
Erwartungen der Bevölkerung und<br />
(3) die gerechte Verteilung der finanziellen Lasten von Gesundheitssystemen.<br />
Bei der Verbesserung des Gesundheitszustandes geht es sowohl darum,<br />
die durchschnittliche Bevölkerungsgesundheit zu verbessern,<br />
als auch darum, Ungleichheiten im Gesundheitsstatus zu reduzieren.<br />
Sensibilität und Reaktivität im Hinblick auf die Bedürfnisse der<br />
Bevölkerung umfassen mehrere Komponenten. Dabei geht es um<br />
den Respekt für das Individuum, die Beachtung seiner Würde und<br />
seiner Autonomie sowie um den Schutz der Vertraulichkeit. Weiter<br />
ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, wie sensibel die Gesundheitsversorgung<br />
auf sich ändernde Bedürfnisse der Bevölkerung<br />
reagieren kann und inwieweit sie in der Lage ist, die freie Wahl der<br />
personalen und institutionellen Versorgungsangebote zu garantieren.<br />
Finanzierungsgerechtigkeit beinhaltet schliesslich, dass niemand<br />
auf Grund von Erkrankung verarmen oder einen überproportionalen<br />
Anteil seines Einkommens aufwenden muss, um notwendige<br />
Versorgungsleistungen zu erhalten.<br />
Unter Beachtung dieser fundamentalen Zielsetzungen mag es<br />
von Interesse sein, das eine oder andere Kapitel dieses Tagungs-<br />
Wertebestimmte Gesundheitsversorgung – eine Plattform<br />
für eine gesamteuropäische Gesundheitspolitik<br />
358 359<br />
bandes neu zu lesen. Viele Fragen werden sich anders stellen, nämlich<br />
ob und in welchem Ausmass die jeweiligen Gesundheitsversorgungssysteme<br />
diesen basalen Zielsetzungen entsprechen (7). Das<br />
vorgeschlagene Beurteilungsraster erleichtert auch den Vergleich<br />
verschiedener Systeme vor dem Hintergrund der verwirrenden Vielfalt<br />
unterschiedlichster Versorgungsansätze. Die meisten Versorgungsansätze<br />
lassen sich nämlich danach einordnen, ob und in welchem<br />
Umfang sie die vorgenannten fundamentalen Ziele erreichen.<br />
So ist dann beispielsweise Gemeindepsychiatrie kein eigenständiger<br />
Wert mehr, sondern ein Mittel, auf Versorgungsbedürfnisse der<br />
Betroffenen reagieren zu können, z.B. im Hinblick auf die leichte<br />
Erreichbarkeit oder auf die Möglichkeit, trotz Krankheit im gewohnten<br />
Lebensumfeld zu verbleiben, was nicht unwesentlich die Entscheidung<br />
zur Inanspruchnahme beeinflusst.<br />
Das Erfassungsraster erlaubt darüber hinaus ein Urteil, ob die<br />
psychiatrische Versorgung einen angemessenen Anteil der insgesamt<br />
zur Verfügung stehenden Ressourcen erhält oder ob psychisch kranke<br />
Menschen im Vergleich zu somatischen Patienten in den jeweiligen<br />
Versorgungssystemen benachteiligt werden.<br />
Divergierende Interessen<br />
Die verschiedenen Kapitel dieses Tagungsbandes wurden vorwiegend<br />
von Expertinnen und Experten verfasst. Selbst wenn die<br />
Perspektive der Betroffenen oder Angehörigen mit eingeschlossen<br />
wurde, liegt zweifellos der Schwerpunkt der Darstellungen auf professionellen<br />
Versorgungsstrukturen im sozialen und medizinischen<br />
Bereich der verschiedenen Länder.<br />
Anders als in vielen anderen medizinischen Fächern ziehen professionelle<br />
Helferinnen und Helfer, Angehörige und Betroffene nicht<br />
immer am gleichen Strang, insbesondere wenn es um die Frage geht,<br />
welche die wahren »Bedürfnisse der Betroffenen« sind (8). Die divergierenden<br />
Interessen der an diesem Prozess Beteiligten dürften<br />
einer der Hauptgründe dafür sein, dass <strong>Psychiatrie</strong>-Reformen so<br />
schwierig durchzusetzen sind.<br />
Alles in allem zielt eine zeitgemässe psychiatrische Versorgung<br />
darauf ab, Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen in die<br />
Gesellschaft zu integrieren und es ihnen zu ermöglichen, ein Leben<br />
so normal und so autonom wie möglich zu führen. Eine der wesent-