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"25 Jahre Psychiatrie-Enquete" Teil II - Aktion Psychisch Kranke e.V.

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Erfahrungen mit der Frage nach der geschlossenen<br />

Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Hamburg<br />

Charlotte Köttgen<br />

Steigt die Jugendgewalt?<br />

Nachdem die Aufregung über steigende Jugendkriminalität im Wahlkampf<br />

abgeklungen ist, stellt PFEIFFER (1998), der die Debatte<br />

durchaus mit Daten genährt hatte, plötzlich fest: »Der Anstieg der<br />

Jugendgewalt fällt erheblich schwächer aus, als die polizeilichen<br />

Daten es signalisieren«, denn: »Wenn nun die Anzeige-Quote steigt,<br />

erhöht sich nur die Sichtbarkeit der Jugendgewalt, nicht ihr Gesamtvolumen<br />

– ganz ähnlich wie bei einem Eisberg, der sich weiter aus<br />

dem Wasser heraushebt.« 4/5 der Jugendlichen und Heranwachsenden,<br />

die durch Zunahme an Jugendgewalt auffallen, gehören sozialen<br />

Randgruppen an. Mehr als 3/4 der jungen Gewalttäter weist ein<br />

niedriges Bildungsniveau auf, das ihnen im Berufsleben schlechte<br />

bis mäßige Perspektiven eröffnet. Solche Jugendlichen empfinden<br />

sich als Verliererinnen bzw. Verlierer. Das Risiko der Entstehung von<br />

Jugendgewalt erhöht sich drastisch, wenn drei Faktoren zusammentreffen:<br />

a) die Erfahrung innerfamilialer Gewalt,<br />

b) gravierende soziale Benachteiligung der Familie und<br />

c) schlechte Zukunftschance des Jugendlichen aufgrund eines niedrigen<br />

Bildungsniveaus.<br />

»Wer durch seine Eltern massive Schläge und Misshandlungen erlebt<br />

hat, wird erheblich häufiger selber gewalttätig als nicht geschlagene<br />

junge Menschen. (....) Die Integration dauerhaft in Deutschland<br />

lebender ausländischer Bürger ist nur sehr unzureichend<br />

gelungen. Dies trifft auf die kulturelle Integration ebenso zu, wie auf<br />

die strukturelle und soziale Integration. Junge Ausländer sind über<br />

proportional von Benachteiligung und erfahrener innerfamilialer<br />

Gewalt betroffen, sie gehören demnach zu den Loosern.« (PFEIFFER<br />

1998)<br />

Die Forschung bestätigt – wieder einmal muss man sagen – viele<br />

der vorhandenen Erkenntnisse aus früheren Untersuchungen, die<br />

Erfahrungen mit der Frage nach der geschlossenen<br />

Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Hamburg<br />

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den direkten Zusammenhang zwischen sozialen Problemlagen und<br />

dem Vorkommen von Gewalt und Jugend-Delinquenz bestätigt haben<br />

(MOSER 1970, PETRI u.a. 1975, RAUCHFLEISCH 1992). Die<br />

Spaltung der Gesellschaft in sehr Reiche und extrem Arme hat sich<br />

in den letzten <strong>Jahre</strong>n dramatisch zu ungunsten der Armen vollzogen.<br />

Eine Entsolidarisierung droht auf allen Ebenen. »Besorgniserregend<br />

ist in Wahrheit nicht die Jugend, sondern die Situation, in<br />

die sie hineinwächst«, schrieb DIE WOCHE nachdenklich am<br />

27.06.1997. Heimerziehung, Strafverfolgung und <strong>Psychiatrie</strong> hatten<br />

– in den letzten 200 <strong>Jahre</strong>n – in ihrer Geschichte im Kern einen<br />

gemeinsamen Auftrag, sie sollten die Gesellschaft vor armen Menschen<br />

mit abweichenden Verhaltensweisen schützen. Das geschah,<br />

je nach sozialen und politischen Verhältnissen, mehr oder weniger<br />

durch Gewalt, Kontrolle, Fürsorge und den Anspruch auf Heilen.<br />

Aus dem ursprünglichen Armenhaus differenzierten sich im vorigen<br />

Jahrhundert dann die Gefängnisse, Kliniken und (Waisen-)Heime<br />

heraus. Die Trennschärfe war damals und ist auch heute oft nicht<br />

ganz klar. Die Zielgruppen dieser Institutionen überschnitten sich.<br />

Die Methoden, die zur Bestrafung, Behandlung, Erziehung, Betreuung<br />

und Besserung eingesetzt wurden, waren oft schwer voneinander<br />

abzugrenzen. Die kritischen Analytiker, als deren namhafteste<br />

Vertreter ich hier nur GOFFMAN (1977), FOUCAULT (1969), DÖRNER<br />

(1969), BASAGLIA (1971) nennen möchte (siehe auch BLASIUS<br />

1978), bezogen sich auf alle Institutionen, die ausschließenden Charakter<br />

hatten. Innerhalb dieser Institutionen wurde oft notdürftig verwahrt,<br />

und es herrschten die rigiden Regeln totaler Institutionen.<br />

Nivellierung und Deformierung der Persönlichkeit, bizarre, stereotype<br />

Verhaltensweisen, Antriebsarmut, Verblödung, sozialer Rückzug<br />

galten über ein Jahrhundert als die typischen Symptome der<br />

chronischen Schizophrenie. CIOMPI (1980) nannte dagegen diese<br />

künstlich geschaffene chronische Schizophrenie einen Artefakt, ein<br />

Kunstprodukt, hervorgerufen durch die Anstaltsbedingungen selbst,<br />

d.h. durch eben diejenige »Behandlung«, die zur Heilung gedacht<br />

war. Die chronische Schizophrenie aber war eben die Krankheit, aus<br />

der die Anstaltspsychiatrie ihre wesentliche Legitimation ableitete.<br />

In den USA seien mittlerweile fast 20 % der Gefängnisinsassen<br />

psychisch kranke Menschen: »Wir sind wieder da gelandet, wo wir<br />

vor 150 <strong>Jahre</strong>n schon einmal waren«, klagt Fuller Torrey (FULLER<br />

1998) aus dem National Institute of Mental Health (NIMH) in

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